Jetzt rätseln wir wieder. Rätseln über den verheerenden Ausgang der Europawahlen; über den Rechtsruck in vielen Staaten der europäischen Gemeinschaft und nicht zuletzt über die beängstigenden Ergebnisse in den eigenen, den östlichen Bundesländern; dort also, wo in wenigen Wochen Landtagswahlen stattfinden werden. Es war vorhersehbar! Aus heiterem Himmel kam ein ganz anderer Trend: das für viele Beobachter überraschende Wahlverhalten der jüngsten Wähler, die immer als sichere Kohorten der Grünen galten. Sie haben sich in erstaunlich hoher Zahl für die Union, aber auch für die AfD entschieden. Seitdem knirscht es im politischen Gebälk dieser Republik; eine selbstgewisse linksgrüne Öffentlichkeit ringt um Fassung. Was ist falsch gelaufen? Was haben wir, so die unzulässige Kollektivzuschreibung, verkehrt gemacht? Bei unseren Nachbarn sind wir da immer schnell bei der Hand. Die Ungarn stören ohnehin, den Italienern ist nicht zu helfen; durch Frankreich geistert der politische Irrsinn und bei den Holländern weiß man das nicht so genau. Wir Deutsche erteilen so gerne unsere Kopfnoten.
Viel mehr entsetzen müsste uns freilich, was im eigenen Land los ist. Die Wahlergebnisse legen offen, was wir doch schon lange wissen: Die deutsche Spaltung ist wieder da. Man will die üblichen Erklärungen dazu gar nicht mehr hören, wie das ewige Gerede vom ranzigen Rand. Ich bin dieser Tage bei Sonnenschein über die Dörfer im Erfurter Land gefahren; eines war schöner herausgeputzt als das andere. Am Abend in Dresden über der Elbe beim Wein; berührendere Augenblicke kann es kaum irgendwo geben. Der Zuspruch zur AfD hat dort keinen elenden Grund. Es sind doch blühende Landschaften entstanden.
Eigentlich hätte die deutsche Gesellschaft bei einem solchen Wahlausgang den Atem anhalten müssen; immerhin zeigt sich die politische Klasse bestürzt. Aber man hat sich doch längst damit abgefunden, dass der Osten weit weg ist und es lange so bleibt.
Viel größer ist – verständlicherweise – die Bestürzung über die Einstellung der ganz Jungen. Sie wäre vielleicht schon früher sichtbar geworden, wenn wir nicht andauernd nur die Klimaaktivisten und Straßenkleber in den Blick genommen hätten. Es gibt ihn schon länger, diesen politischen »Move« hin zum Konservativen in dieser Generation, aber wir wollten ihn partout nicht erkennen.
Dabei widerspricht es schon den Gesetzmäßigkeiten des Jugendprotests zu glauben, dass eine alt und mürrisch gewordene grüne Funktionärspartei dieser Altersgruppe überhaupt noch etwas zu sagen hat. Die TikTok-Generation nutzt keine hölzernen Stricknadeln mehr, um sich ihren kratzigen Gesinnungspullover stricken zu lassen.
Solche politischen Umschwünge kommen oft unverhofft, scheinbar wie aus dem Nichts. Aber auch sie haben ihre eigene Enttäuschungsgeschichte. Man hätte nur jenem Teil dieser Jungen zuhören müssen, die plötzlich eine neue, deutlich rechtere Weltsicht zu äußern beginnen. Das ist bei weitem kein virtuelles Netzphänomen. Wer von digitalen Meinungsblasen spricht, offenbart nur sein auffallend arrogantes Verhältnis zur Macht. Diese Generation beginnt, alte tradierte Vorstellungen wieder für sich zu entdecken, wie Heimat, aber auch Leistung und Anstand.
Man sollte lieber in den deutschen Südwesten schauen, dorthin wo die Grünen die Etablierten und Selbstgefälligen sind. Dort dürfte sich dieser generationelle Wandel schon länger vollziehen. Eine politische Ära beginnt zu verblassen, und es ist keineswegs ausgemacht, wer davon profitiert.
Per Zufall bin ich jüngst in einen schwäbischen Boxclub geraten, in der sehr viele tätowierte Jugendliche trainieren mit – wie es heißt – migrantischem Hintergrund. Es sind die Enkel der Einwanderergeneration, und sie bekennen sich mit Nachdruck zu diesem hiesigen Land. Da ist eine Heimatbindung gewachsen, die wir nicht auf dem politischen Radar hatten. Ich habe selten so viel Ablehnung gegenüber dem derzeit grassierenden Kulturwandel erlebt, wie in dieser kleinen postmigrantischen Welt. Es mag eine Momentaufnahme sein. Aber diese jungen Nachfahren wollen jenes Deutschland behalten, in das ihre Großeltern einst gekommen sind; und sie sehen es von vielen Seiten bedroht. Es ist nicht ausgemacht, wohin dieser Generationenumbruch führen wird. Aber er könnte den Anstoß für einen neuen, überraschend vielgestaltigen Patriotismus geben. Es wäre fatal, ihn den extremistischen Kräften zu überlassen.