Es schadet nichts, alte Bücher zu lesen, wieder zu lesen. Man hat die alten Geschichten ja längst vergessen oder erinnert sie nur noch in verschwommenen Bruchstücken. Mit erheblicher Verspätung, erst vor ein paar Jahren, bin ich auf die Erzählungen und Essays von Franz Fühmann gestoßen und habe endlich erkannt, dass er der bedeutendste Autor aus der Zeit der DDR war. Andere waren da schneller und schlauer als ich. Andererseits hatte ich nun die Freude des Entdeckens erst vor mir.
So habe ich neben einigen Essays zunächst Fühmanns Nacherzählung von Homers »Illias« gelesen und genossen und mir jetzt die »Odyssee« vorgenommen. Als Kind hatte ich mich in diese Sagenwelt vertieft, auf der Schule im Original gelesen. Leistungskurs Alt-Griechisch! Aber es ist erschreckend, wie wenig hängengeblieben ist. Andererseits hatte ich nun trotz meines fortgeschrittenen Alters ein frisches, höchst lebendiges Leseerlebnis mit vielen Überraschungen. Besonders geht mir das Ende der »Odyssee« nach. Denn es wirft aus weiter Ferne ein Licht auf unsere heutigen Debatten über Geschichtspolitik, Gedenkkultur, Aufarbeitung und Bewältigung.
Für alle, die es wie ich vergessen hatten, zur Erinnerung: Nach dem Sieg über Troja, den die Griechen dank einer List des Odysseus (die Sache mit dem Pferd) errungen haben, wollen die kriegsmüden Helden zurückkehren, doch das führt vor allem Odysseus in eine lange Reihe von Verzögerungen, Umwegen, Prüfungen, Kämpfen und Katastrophen. Derweil machen sich die Freier in Ithaka breit, verzehren die Güter seines Königreichs, bedrängen seine Frau Penelope, bedrohen seinen Sohn Telemach. Schließlich aber kommt Odysseus doch in seiner Heimat an und kann die Freier töten – es ist ein Hochamt der Rache. (Wie genau das alles vor sich ging, lesen Sie am besten selbst bei Fühmann).
Doch anders, als ich mich zu erinnern meinte, ist damit das Epos noch nicht zu Ende. Odysseus besucht nach dem letzten Kampf seinen Vater Laertes auf dessen Landgut, um ihn endlich wiederzusehen und sich auszuruhen. Was er nicht bedacht hatte, war, dass die Freier Anhänger im Land hatten, die nun wiederum Rache nehmen wollen. Diese eilen zu ihren Rüstungen, wappnen sich und ordnen sich zur Streitmacht. Odysseus hätte ihnen nichts entgegenzusetzen. Da bittet Athene, die Schutzgöttin des Helden, ihren Vater um Rat. Dies ist seine Antwort: »Ich will dem Volk die Erinnerung an all die getöteten Brüder und Söhne nehmen, dass kein Herz und niemandes Ehre mehr verletzt sei und kein Rachegedanke die Sinne mehr trübe.« So geschieht es. Zeus und Athene beenden den Bruderkrieg und legen ein tiefes Vergessen über das Land. Dem ewigen Frieden steht jetzt nichts mehr entgegen.
Dieses happy ending widerspricht allem, was wir in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gelernt zu haben meinen. Die Geschichte wird gerade nicht aufgearbeitet. Es gibt keine historische Forschung. Schuld wird nicht erhoben und bestraft. Betroffene werden nicht gehört. Der Opfer wird nicht gedacht. Keine Gedenkstätte wird errichtet. Stattdessen werden die Schrecken von allen, den Tätern und den Opfern und denen, die beides waren, vergessen. Niemand fühlt sich in seiner Ehre verletzt, keiner sieht sich genötigt Rache zu nehmen. Der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt ist durchbrochen. Zeus sei Dank!
Ist das nicht auch eine Möglichkeit, mit Schuld umzugehen? Andere Kulturen halten es noch heute so. Ob es in ihnen so viel schlechter zugeht als im vermeintlich vorbildlichen Deutschland? Hat nicht auch das Vergessen sein Recht? Vor allem: Zeigt sich hier nicht überdeutlich, dass unsere säkulare Gedenkkultur Wurzeln in der christlichen Buße hat und deren Grundelementen – Bekenntnis der Schuld, ehrlich empfundenes Bedauern, Wiedergutmachung, Vergebung – verpflichtet ist? Ist das nicht ein wertvolles christliches Erbstück? Andererseits, so richtig scheint der Vergessenszauber des Zeus nicht funktioniert zu haben. Sonst wäre diese Geschichte ja nicht erzählt worden, wieder und wieder, von Homer bis zu Franz Fühmann.