Mit ihrem »Lagebild #13: Antisemitische Allianzen seit dem 7. Oktober« gibt die Amadeu Antonio Stiftung ein Bild der Situation für Jüdinnen und Juden seit dem 7. Oktober 2023.
Wie stellt sich die Situation für Jüdinnen und Juden seit dem 7. Oktober dar?
Schrecklich, da bin ich mir sicher. Aber ich kann hier nicht für Juden und Jüdinnen sprechen. Ich kann über Antisemitismus sprechen und darüber, was wir beobachten oder darüber, was uns erzählt wird. Und da kann ich klar sagen: Seit dem 7. Oktober ist die Situation schwieriger als jemals zuvor: Einerseits ist es notwendiger denn je, über Antisemitismus in diesem Land zu reden, die dramatische Situation von Jüdinnen und Juden in diesem Land sichtbar zu machen und zu skandalisieren, und gleichzeitig bin ich schockiert, bin ich sprachlos: Es gibt nichts mehr zu sagen, was nicht schon längst gesagt wurde. Es fühlt sich einfach ausweglos an. Denn seit dem tödlichsten Angriff auf jüdisches Leben seit der Shoah am 7. Oktober erreicht der offene Antisemitismus auch in Deutschland eine beispiellose Qualität. Die Zahlen von RIAS (report-antisemitism) Berlin sind ja vor einiger Zeit veröffentlicht worden, und die zeigen deutlich den sprunghaften Anstieg einer ohnehin schon untragbar hohen Anzahl an antisemitischen Angriffen und Vorfällen. Vor dem 7. Oktober zählte RIAS in Berlin durchschnittlich zwei Vorfälle pro Woche, die sich gegen jüdische oder israelische Personen richteten – ab dem 7. Oktober waren es bis zum Jahresende durchschnittlich 14 Vorfälle pro Woche. Das ist unvorstellbar. In Schulen, bei der Arbeit, in Universitäten, auf der Straße: Es ist eine enorm bedrohliche Situation, die das ganze Leben für viele Menschen verändert hat.
In Ihrem aktuellen »Lagebild« geht es um antisemitische Allianzen. Welche Allianzen sind das?
Wir machen in unserem »Lagebild #13« auf den Schulterschluss zwischen islamistischen und antiimperialistischen Akteuren, die in ihrer antizionistischen Ideologie vereint sind, aufmerksam. Das ist historisch nicht neu, aber vor der jetzt entstandenen Dynamik und ihren Folgen warnen wir. Der Plan der Hamas und ihrer Unterstützer und Unterstützerinnen ist aufgegangen. Wir reden nicht mehr über den 7. Oktober, die Gewalt, die Geiseln, den globalen Antisemitismus. Stattdessen trendet Israelhass im Namen des Eintretens für Menschenrechte, im Namen einer Solidarität mit den Palästinensern und Palästinenserinnen. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass diese Allianzen zu Antisemitismus führen, der sich ungehemmter und selbstgerechter Bahn bricht, als wir es bisher kennen. Außerdem wird von diesen Akteuren die ausweglose Situation der Palästinenser und Palästinenserinnen nur instrumentell in den Mittelpunkt gestellt. Wäre das nicht so, dann hätten wir andere Formen der Trauer, der Wut und der Ohnmachtsbekundung auf den Straßen, dann könnten Menschen beispielsweise gleichzeitig für die Freilassung aller Geiseln, gegen die Hamas und gegen die Kriegsführung der israelischen Regierung demonstrieren. Darum geht es diesen Akteuren aber nicht. Die letzten Monate stellen eine so bedrohliche und gefährliche Situation für Jüdinnen und Juden in Deutschland dar, die droht, in Terror gegen Juden umzuschlagen.
Was fordern Sie in dieser Situation von Politik und Gesellschaft?
Ich wünsche mir eine klare Haltung, eine klare Sprache, ein klares Handeln. Antisemitismus ist allgegenwärtig, und er wird dann geduldet und normalisiert, wenn wir israelbezogenen Antisemitismus nicht als unser aktuelles Hauptproblem anerkennen: Kritik an israelischer Politik ist etwas anderes als israelbezogener Antisemitismus. Mit letzterem haben wir es aber hier zu tun. Israelbezogener Antisemitismus ist das verbindende Element dieser Allianzen über alle sonstigen Differenzen hinweg. Anders lässt sich nicht fassen, dass insbesondere sich als links und progressiv verstehende Gruppen aus dem antiimperialistischen Spektrum als Steigbügelhalter für Islamismus fungieren. Das Lagebild zeigt ganz deutlich: Unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Palästina-Solidarität werden islamistische Parolen salonfähig gemacht und die Ächtung von Islamismus erodiert. Es ist unfassbar, dass islamistische Akteure als legitime politische Partner gesehen werden. Das können wir als demokratische Zivilgesellschaft nicht unwidersprochen lassen.
Mit einer klaren Haltung kann zudem die Benennung antisemitischer Gewalt nicht für die Verfestigung rassistischer Politik und rassistischer Stimmungsmache genutzt werden. Mit einer klaren Haltung können antisemitismuskritische Perspektiven auch nicht gegen rassismuskritische Perspektiven in Stellung gebracht werden. Ich erwarte von einer demokratischen Kultur, dass sie sich dieser Herausforderung stellt, dass sie ihren Rassismus und ihren Antisemitismus reflektiert.
Wir müssen trennscharf und konkret sprechen und nicht das eine für das andere halten. Wir sollten in der Lage sein, infamen Vereinnahmungen etwas entgegenzusetzen: Wer die Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober – die Enthauptungen, Vergewaltigungen und Entführungen – verharmlost oder verherrlicht, verherrlicht und feiert die Taten von islamistischen Terroristen und feiert nicht einen Befreiungsakt.
Und wir sollten in unseren jeweiligen Einflussbereichen handeln und Verantwortung übernehmen. Ob in einer Kulturinstitution, in einem Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs, an der Uni, im Lehrerzimmer oder im Klassenraum: Antisemitismus können wir ganz konkret und im direkten Kontakt mit Menschen wahrnehmen, ansprechen, ihm konstruktiv etwas entgegensetzen, mit Klarheit und Empathie, mit Erklären und Aufklären. Aber auch mit Fachlichkeit, mit Standards, mit Leitlinien, mit Einbeziehung von vorhandener Expertise, mit Selbstverpflichtung. Und allem voran: mit Solidarität mit den Betroffenen, wenn wir Zeugen von Antisemitismus werden.