In den ersten Wochen nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine stellten sich Osteuropahistoriker die eine Frage: Hat unser Fach versagt, hätten wir den Ukraine-Krieg nicht kommen sehen müssen? Die kritische Selbstreflexion war auf die Strukturmerkmale des Faches und die Akzentsetzung gerichtet: Hat es etwa mit der Priorisierung Russlands in Lehre und Forschung zu tun, dass man etwas ganz Wesentliches übersehen hat? Das starke Gefühl der Ohnmacht und Wut feuerte viele von uns an, scharf mit sich selbst ins Gericht zu gehen und die russlandfreundliche Politik Deutschlands mit den Traditionen des kolonialen Blickes auf Osteuropa zu verbinden. In dieser antiquierten Perspektive ging es nämlich um das Russische Kaiserreich bzw. Sowjetrussland als Hauptakteur des Geschehens.

Mittlerweile dauert der Krieg sechs Monate und eine nüchterne Inventarisierung des Faches zeigt, dass nicht die Osteuropaforschung versagt hat, sondern die Politiker, die ihre Entscheidungen nach der politischen Ratio und über Menschenrechtsverletzungen hinwegsehend trafen und sich einer Beratung durch Fachleute entzogen hatten.

Jetzt, wenn man händeringend nach Experten für post-sowjetischen Raum sucht, steht man vor einem Problem: Die geförderten Projekte, Graduiertenschulen, Cluster und Forschungsnetzwerke wurden nicht in stabil finanzierte Institutionen überführt, die ausgebildeten Geschichts-, Wirtschafts-, Rechts- und Literaturwissenschaftler haben sich umorientiert. So fehlen sie uns jetzt, um die historisch-kulturelle Grundlagen des Krieges zu analysieren. Für die Ausbildung neuer Experten braucht es einen langen Atem, vor allem weil es um Sprach- und Landeskenntnisse geht, die nur mit beträchtlichem Zeit- und Arbeitsaufwand angeworben werden können.

Tatsächlich hat die deutsche Osteuropakunde eine lange Tradition: Bereits 1913 bündelte Otto Hoetzsch mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft zum Studium Russlands verschiedene Disziplinen, um das Geschehen im östlichen Nachbarstaat zu analysieren. Die Interdisziplinarität zeichnet das Fach somit von Beginn an aus: Die Nachfolgeorganisation der Hoetzschen Gesellschaft – die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) – machte es sich zum Programm. Das kann man noch immer sehr gut an ihrer Zeitschrift erkennen, die wirtschaftliche, politikwissenschaftliche, juristische, literaturwissenschaftliche und historische Expertise verbindet.

Nach der rassenideologisch, kolonial und ausbeuterisch ausgerichteten Osteuropakunde in der NS-Zeit begann nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeit der »Sowjetologie«, also einer »Kunde über den Feind«. Das Ende des Kommunismus in Europa und die Begeisterung für Michail Gorbatschow, der die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte, führte jedoch zu vorschnellen wissenschaftspolitischen Schlüssen. In den 1990er Jahren begann man Lehrstühle zu streichen, nach dem Prinzip: Ist der Feind nicht mehr da, müssen wir auch nicht über ihn forschen.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Historikerinnen und Historiker, die in den 1990er Jahren ihre wissenschaftliche Laufbahn begannen, sich auf sowjetische Geschichte oder die neuzeitliche Geschichte des Russischen Kaiserreichs konzentrierten. Die Öffnung der Archive und die Möglichkeit zu reisen, ermöglichte paradigmatische, methodisch innovative Qualifikationsarbeiten. Es liegt in der Natur der Sache, dass von den gegenwärtig 36 Professuren an 29 Standorten in Deutschland die meisten eben russische bzw. sowjetische Geschichte im Forschungsprofil haben. Die bilateralen Institutionen, wie die von Helmut Kohl und Boris Jelzin 1998 gegründete deutsch-russische Historikerkommission, verstärkten diese Fokussierung. Heute stellt es sich als verpasste Chance dar, die bilateralen Kommissionen bereits in den 1990er Jahren mit den anderen post-sowjetischen Republiken zu gründen – mit Sicherheit hätten wir heute mehr ukrainische Stimmen, mehr Expertise. Freilich sollte man aber auch nicht die oft unsichere institutionelle Situation und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Historikerinnen und Historiker in Ländern wie Belarus oder in der Ukraine in den 1990er Jahren unterschätzen. Davon zeugt auch die Tatsache, dass die Anfänge der Holocaustforschung auf das persönliche Engagement von Einzelpersonen in der Ukraine, Belarus oder Litauen zurückzuführen sind.

Es wäre aber falsch zu sagen, dass die Ukraineforschung erst in den Anfängen steckt: Bereits in den 1990er Jahren haben Andreas Kappeler, Gerhard Simon und Heiko Pleines zur ukrainischen Geschichte geforscht und publiziert, in den 2000er Jahren dann Tanja Penter, Anna Veronika Wendland, Frank Golczewski und Guido Hausmann. Von allen ehemaligen Sowjetrepubliken ist die Ukraine wohl die am besten erforschte.

Wenn jetzt nach einer Neuorientierung des Faches gerufen wird, dann geht es nicht darum, die Ukraine als Forschungsgegenstand zu »entdecken« – und ihre Geschichte im normativen Sinn eines Nation Building zu schreiben –, sondern darum, sie als Subjekt und Akteur in Verflechtungs-, Vergleichs- und Transfergeschichte zu erforschen. Es geht hier um die »Flughöhe« der Beobachtung, um einen breiten zeitlichen und geografischen Horizont, um die Erklärungen der neuen demokratischen Revolutionen, der Gewalt und der post-imperialen Resilienzen.

Das Fach hat zweifellos einen Ansporn, die Forschung zur Region zu vertiefen. Doch wie sieht es mit der öffentlich-medialen Nachfrage unseres Wissens aus? Die Antwort muss ernüchternd ausfallen: Es gibt eine Wissenslücke zur Ukraine in der Öffentlichkeit, ihrer Kultur und Sprache, trotz der Publikationen, die auch im Sachbuchformat vorliegen. In Bezug auf die Ukraine interessiert man sich am häufigsten eher dafür, ob Ukrainisch eine eigenständige Sprache ist und ob der faschistische Nationalisten Stepan Bandera wirklich verehrt wird. Es gibt einen enormen Aufklärungsbedarf, auch hinsichtlich anderer postsowjetischer Staaten, denn diese sind weder gewaltfrei noch demokratisch. Doch auch wenn man zu Litauen oder Zentralasien promoviert wurde, wird man von den Debattierclubs und Medien vor allem zur Erklärung des Putinschen Russlands angefragt.

Die Politik entdeckt die Relevanz dieser Fragen erst in den Krisenzeiten – erst kürzlich war dies an der Unfähigkeit der Einordnung des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan in Bergkarabach zu sehen. Es musste bis 2014 dauern, dass dank des engagierten Handelns des Osteuropahistorikers Martin Schulze Wessel die deutsch-ukrainische Historikerkommission gegründet wurde, und bis zur Krimannexion, dass endlich eine Forschungsinstitution zu postsowjetischen Staaten initiiert und 2016 eröffnet wurde: das Zentrum für Osteuropäische und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Die Politik darf nicht weiter so kurzfristig agieren: Osteuropawissenschaft ist kein Pop-up-Store, den man schließen kann, wenn er sich nicht mehr rentiert.

Die mangelnde Institutionalisierung der Ukrainestudien in Deutschland – nur zwei Lehrstühle mit Ukraineprofil und ein Lehrstuhl zur ukrainischen Geschichte in transnationalen Verflechtungen in Frankfurt (Oder) – ist ein Teil des größeren Problems der osteuropäischen Geschichte in Deutschland. Dieses besteht im etablierten wirtschaftlichen und arbeitsmarkttechnischen Kalkül der Hochschulpolitik: Die Bewertung der Einschreib- und Absolventenquoten führte zur Schließung der Slawistik vielerorts. Das Interesse an der osteuropäischen Geschichte ist zwar konstant, doch nur wenige wählen das Fach für die weitere Qualifikation: Das Erlernen der Sprache in Eigenregie ist äußerst mühsam, die Sprachlernzentren schaffen mit der Vermittlung der Grundkenntnisse kaum Abhilfe, lange Pendlerwege zu den Universitäten, an denen es Slawistik noch gibt, sind unzumutbar. Die Formatierung des Studiums nach B.A. und M.A. führte dazu, dass keine längeren Auslandsaufenthalte, Praktika oder Sprachkurse mehr drin sind, was zum Erlernen der Sprache unabdingbar ist. Umso stärker stellt sich das Problem für die Ukrainistik: Die ukrainische Sprache ließe sich aktuell nur an zwölf Universitäten erlernen, die erworbenen Grundkenntnisse reichen aber nicht zur Forschungsarbeit. Es fehlt an der Ausstattung mit ukrainischsprachiger Forschungsliteratur in den Bibliotheken und an muttersprachlichen Lektoraten. Um die russozentrische Optik zu überwinden, ist das Auswerten der Quellen in ukrainischer, jiddischer und tatarischer Sprache ein absolutes Muss.

Heute muss es auch darum gehen, dass wir das enorme Potenzial der geflüchteten ukrainischen und regierungskritischen russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch zu nutzen wissen. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Stimmen der ukrainischen Historikerinnen und Historiker unsere Expertise zur Ukraine nachhaltig bereichern, und vor allem jetzt soll es darum gehen, ukrainische Wissenschaftler stärker in die Diskussion der Gegenwart einzubinden.

Schließlich ist ein Problem zu erwähnen, das unmittelbar mit der russischen Aggression gegen die Ukraine zu tun hat: Archive, Kulturgüter, Museen und Kulturzentren werden zerstört. Tausende Spuren der Vergangenheit sind bereits jetzt für die Osteuropaforscher unwiederbringlich verloren. Unsere uneingeschränkte Unterstützung und Solidarität sollen auch in diesem Bereich der Ukraine gelten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.