Hörspielautorinnen und -autoren sowie Regisseurinnen und Regisseure fürchten um die Zukunft ihres Metiers. Christine Nagel, Oliver Sturm und Martin Stengel im Gespräch mit Barbara Haack.

 

Barbara Haack: Am 1. Juli haben Sie einen offenen Brief an einen größeren Kreis von Verantwortlichen der Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. Was war der Anlass?

Martin Stengel: Die Film- und Medienstiftung NRW ist mit einem Budget von 38 Millionen Euro ausgestattet, um die Medienlandschaft in NRW zu fördern. In diesem Jahr findet die Hörspielförderung allerdings nicht statt. Das Geld, ungefähr 100.000 Euro, ist da. Aber es wird nicht abgerufen. Die zuständige Referentin in der Stiftung wurde von ihren Aufgaben entbunden und wird die Stiftung verlassen. Es gibt niemanden, der vor Ort kompetent Hörspielförderung betreiben könnte. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden findet dieses Jahr nicht statt, auch das Hörspielforum NRW, die größte Arbeitskonferenz für Hörspielnachwuchs und Hörspielschaffende, fällt aus. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr – 100 Jahre Hörspiel – gibt es keine Hörspielförderung. Also habe ich diesen offenen Brief verfasst und dort einige Fakten zusammengetragen, daraus Schlussfolgerungen gezogen und Befürchtungen geäußert. Dann habe ich Menschen gesucht, die den Brief unterzeichnen. Einen Tag vor der Aufsichtsratssitzung der Stiftung, am 1. Juli, wurde er veröffentlicht. Danach gab es zwei Gespräche mit dem neuen Geschäftsführer der Stiftung.

 

Welche Reaktionen gab es von den im Brief Angeschriebenen?

Stengel: Es gab keine Antwort. Es gab nur eine offizielle Stellungnahme des Geschäftsführers gegenüber verschiedenen Agenturen, darunter dpa und epd. Darin heißt es, wir hätten uns geeinigt. Aber das stimmt nicht. In einem epd-Interview habe ich das auch gesagt: Ich kann mich gar nicht mit ihm einigen. Ich habe lediglich Befürchtungen geäußert, ohne offizielle Funktion.

 

Gibt es eine Begründung der genannten Schritte von irgendeiner Seite?

Stengel: Die Begründung des Geschäftsführers lautet, dass er neu ist und diesen Bereich neu aufstellen möchte – im nächsten Jahr. Aber nächstes Jahr haben wir kein Jubiläum mehr. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden ist 72 Jahre in Folge vergeben worden. Und jetzt wurde er ohne konkrete Begründung ausgesetzt. Der Geschäftsführer sagte mir, er habe entschieden, das Fördergeld mit ins nächste Jahr zu nehmen. Nach meinem Kenntnisstand geht das nicht. Die Fördergelder müssen nach aktuellen Förderrichtlinien der Film- und Medienstiftung in diesem Jahr ausgegeben werden. Das heißt, diese 100.000 Euro werden ungenutzt an die Geldgeber zurückgehen. Alles, was im offenen Brief als Befürchtung formuliert war, ist eingetreten.

Die Tatsache, dass fast 1.200 Leute und Organisationen den Brief unterzeichnet haben, zeigt, dass es den Menschen, die mit Hörspiel zu tun haben, unter den Nägeln brennt. Es geht in diesem Förderbereich im Übrigen nicht immer um große Summen. Gerade hier kann auch eine kleinere Förderung die Möglichkeit eröffnen, beim Hörspiel einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Oliver Sturm: Für die Hörspiellandschaft ist es dramatisch, wenn das Hörspielforum NRW, die Hörspielförderung NRW oder der Kriegsblindenpreis ausgesetzt werden. Damit hört ein wesentlicher Teil der Außenwahrnehmung des Hörspiels auf. Die ARD und der Deutschlandfunk in ihrer Hörspielbinnenblase haben dann immer weniger Außeninstanzen, die nochmal über das Hörspiel nachdenken oder die durch Förderung andere Formate unterstützen. Gleichzeitig steht die Institution »Hörspiel des Monats« auf dem Prüfstand, ebenso das Festival in Karlsruhe, die ARD-Hörspieltage. Die NRW-Filmstiftung war bisher immer ein Partner und nicht jemand, der uns als Antagonist gegenübergestanden hat.

 

Tatsächlich leben wir heute in einer neuen Medienwelt. Das mag das Argument für eine Neuaufstellung sein. Es gibt eine Vielfalt von Audio- und audiovisuellen Formaten und Plattformen, z. B. das Hörbuch, den Podcast, nicht-lineare jederzeit abrufbare Angebote. Welche Rolle spielt das Genre Hörspiel heute noch?

Christine Nagel: Man muss etwas genauer auf den Hörspielbegriff, den die ARD lange vertreten hat, schauen. In analogen Zeiten war klar, dass es Hörspiel nur bei öffentlich-rechtlichen Sendern gab. Dadurch hat sich eine Vielfalt von Ästhetiken und Dramaturgien ausgebildet, die es in dieser wirklich künstlerischen Dichte auf dem freien Markt nirgendwo gegeben hätte. Mit den ersten Audioverlagen oder auch der Plattform Audible gab es neue Partner, die ganz andere Vorstellungen haben von dem, was Audio-Kunst ist. Da geht es eher um erzählerische Formen.

Sturm: Zurzeit hört alle Welt laufend, gehend oder sitzend Podcasts. Von daher erfährt Audio gerade einen starken Boom. Das Hörspiel als künstlerisches Genre hat sich in den Statistiken der ARD als das Zugpferd der ARD Audiothek erwiesen. Es produziert mit Abstand die höchsten Einschaltquoten in der ARD Audiothek. Es hat einen Produktionsanteil von 5 Prozent, aber eine Einschaltquote von 30 bis 40 Prozent. Das heißt, es ist stark. Die Öffentlich-Rechtlichen merken aber, wie ihr Publikum altert, und versuchen zurzeit, neue Publikumsmilieus – so nennen sie das – zu erobern. Deshalb gehen sie vom ehemals rein künstlerischen Hörspiel stärker über zu populären Formaten, die jetzt gezielt gefördert werden. Die neuen Redaktionen haben richtige Kriterienkataloge. Da sind Zentralstellen entstanden, die sich zum Beispiel um Serienformate kümmern. Es werden große Serienstaffeln produziert, die unterhaltsamer oder niederschwelliger sind, als es das gewohnte Hörspiel bislang war. Man hat die Hoffnung, dass man auf diese Weise Einschaltquoten und Hörerschichten erreicht, die man vorher nicht erreicht hat. Wenn wir mit Redakteuren sprechen, die ihrerseits an den künstlerischen Formaten hängen, dann hört man die Hoffnung heraus, dass, wenn man jetzt auf dem populären Sektor durchstartet, man dann möglicherweise so viele neue Hörer erreicht, dass hintenrum wieder Platz für Kunst entsteht. Aber im Moment ist der ganze Rundfunk in einer Transformationsphase vom Senden hin zum Online-Markt und zum Digitalen. Wir bewegen uns quasi wie auf einem Eismeer, und wir stehen mit dem einen Fuß auf der einen Scholle, mit dem anderen Fuß auf der anderen.

 

Aus Ihrer Sicht geht diese Entwicklung, wenn ich es richtig verstehe, mit einer geringeren künstlerischen Qualität einher?

Sturm: Die Projekte sind jedenfalls radikal auf neue Schichten ausgerichtet. Inwieweit das jeweils künstlerisch weniger Qualität hat, weiß ich nicht. Aber das Hörspiel hat immer von der Diversität der Produzierenden und der Autorinnen und Autoren gelebt, wo zum Teil auf etwas anarchische Weise unterschiedlichste Formen und Stücke entstanden sind. Je nach Redaktion existierten unterschiedliche Vorlieben. Beim Bayerischen Rundfunk war es eher die Medienkunst und die Orientierung am Pop-Hörspiel. Beim Norddeutschen Rundfunk war es mehr das literarische Hörspiel. Beim WDR gab es zum Beispiel auch die Klangkunst. Diese jeweiligen Verschiedenheiten werden heute stärker nivelliert durch diese Anstrengung, etwas zu vereinheitlichen. Auf diese Weise wird das Panorama dessen, was entsteht und was gesendet wird, deutlich reduziert. Da fragen wir uns, was am Ende an unserer schöpferischen Kraft noch gefragt ist.

 

Wie sieht es aus mit Vereinbarungen über Honorare und Konditionen? Ändert sich da auch etwas?

Nagel: Man muss zwischen Autorenverträgen und Regieverträgen unterscheiden. Viele Autorenverträge werden über Verlage verhandelt. Daneben gab es immer freie Autoren, die eigene Absprachen mit den Redaktionen getroffen haben. Regie wird ausschließlich tarifgebunden bezahlt. Autoren- und Regiehonorare müssen nun der neuen Verwertungssituation entsprechend angepasst werden, denn die überwiegende online-Stellung der Produktionen wird durch das bisherige Vergütungssystem nicht angemessen abgedeckt.

Sturm: Die Hörspielleute lebten immer von einem komplexen Verwertungssystem. Sie bekamen für eine Produktion ein Ersthonorar. Durch Wiederholungen und Übernahmen ihrer Produktion von anderen Sendern entstand ein Jahreseinkommen, das sich aus Primärproduktionen, Wiederholungen und Übernahmen zusammensetzte. Nachdem sich die Sendungsstruktur so geändert hat und durch den neuen Online-Markt die Anstalten in eine Konkurrenz geraten sind, haben sie gegenseitig Übernahmen blockiert. So hat es auf unserer Seite gigantische Einbrüche im Jahreseinkommen gegeben. Auf diese Situation haben die Autoren vor drei Jahren mit einem offenen Brief reagiert. Der war so durchschlagskräftig, dass die ARD die Autoren in ein Verhandlungsformat einbezogen hat, in dem sie bereits seit zehn Jahren mit den Verlagen verhandelt hatte, ohne Durchbrüche zu erzielen. Wir sind jetzt nach drei Jahren tatsächlich zu einem Ergebnis gekommen, zu einer erheblichen Verbesserung und einer völlig neuen Vergütungslogik, die fast ausschließlich am Online-Markt ausgerichtet ist.

 

Der anarchische Charakter des Hörspiels, von dem Sie sprechen, ist aber vermutlich nicht markt-kompatibel.

Nagel: Das Tolle war früher, dass man mit den Dramaturgen gemeinsam auf meist sehr experimentellem Weg unterwegs sein konnte und dadurch wirklich ungeahnte Formen entstanden. Das wird jetzt erschwert durch die vielen formalen Hürden, die aufgebaut werden. Eine Dramaturgin sagte mir neulich, sie könne pro Jahr nur noch fünf Eigenproduktionen machen. Die müssen natürlich alle erfolgreich sein. Früher konnte auch mal etwas schiefgehen. Neue Formen entstehen auch dadurch, dass man etwas ausprobiert.

 

Im Gegensatz zu den meisten Rundfunkformaten ist das Hörspiel ein fiktionales Format. Macht es das zu etwas Besonderem im Gesamtprogramm?

Sturm: Wir sind es im Rundfunk gewohnt, dass uns dokumentarische Formate, Sport, Unterhaltung, Wetter, Musik, Alltagsberatung erreichen. Aber wie die Wirklichkeit durch uns Menschen hindurchgeht und wie wir sie psychisch verarbeiten, was Politik, ein Krieg in der Ukraine, ein Gaza-Konflikt oder andere konkrete gesellschaftliche historische Zustände mit den Einzelnen machen, das zeigt letztendlich die Kunst. Das Hörspiel ist immer eine Gattung gewesen, die ganz viele Künstlerinnen und Künstler zusammengebracht hat. Die wichtigen Autorinnen und Autoren im Land, die Prosa oder Theaterstücke geschrieben haben, haben fast immer auch Hörspiel gemacht. Diese offene Tür für die Welt der künstlerischen Formen und der fiktionalen Fantasien wird im Moment sehr viel schmaler. Die Redaktionen orientieren sich an allen möglichen quantifizierbaren Kriterien. Die Tragik unserer Kunst ist – im Gegensatz zum Film, wo es ja noch den Markt des Fernsehens und den Markt des Films gibt –, dass es für uns praktisch als Produktionsstätte nur die Öffentlich-Rechtlichen gibt. Die Frage ist, inwieweit die Intendanzen und Hörfunkdirektoren diese Verantwortung gegenüber dem, was sie da bespielen, wirklich ergreifen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2024.