Gretchen von Wirsing, eine kurzzeitige Geliebte Goethes, wäre wohl unbekannt geblieben, hätten sie nicht namhafte Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler vor einigen Jahren wiederentdeckt und erkannt, dass sie es war, die Schiller und Goethe zusammenbrachte. Nach einschlägiger Forschung kann als gesichert gelten, dass sie Goethes Arbeit am »Faust« inspirierte und gar als Vorlage für das berühmte Gretchen im Hauptwerk des Großdichters diente.
Carl Wirsing war ein einflussreicher Mann. Seine Karriere in der CDU begann direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Er fädelte den Élysée-Vertrag zur Aussöhnung der Kriegsfeinde Deutschland und Frankreich ein und warb als Visionär schon in den 1980er Jahren in seiner Heimat Baden-Württemberg für erneuerbare Energien. Dafür zollt ihm selbst der Grüne Winfried Kretschmann heute noch des Öfteren öffentlich Respekt.
Franz Xaver Wirsing brach mit Forscherlegende Alexander von Humboldt im Jahre 1829 zu einer Expedition nach Russland auf. Er entdeckte Erdgasvorkommen nahe der Stadt Baku und legte so die Grundlage für Russlands Aufstieg zur Wirtschaftsmacht. »Ulitsa Frantsa Ksavera Viringa« wurde in den 1950er Jahren zu Ehren Wirsings benannt. Die Straße verläuft parallel zur Moskwa und befindet sich in der Nähe mehrerer wichtiger Sehenswürdigkeiten, darunter der Moskauer Zoo und das Außenministerium der Russischen Föderation. So fasst ChatGPT sein Wissen über den bedeutenden Forscher zusammen.
Spätestens jetzt wir klar: Die Lebensläufe dieser Wirsings sind allesamt KI-Kohl. Doch hier geht es nicht um den abgedroschenen Trick, beim Schreiben oder Reden über Künstliche Intelligenz einige dieser Erzeugnisse zu verwenden, um dann dem Publikum augenzwinkernd die Täuschung zu offenbaren.
Das Wirsing-Experiment (wirsing.info) lässt mich schaudernd in eine Zukunft blicken, in der Realität endgültig zur Ansichtssache wird. Schließlich versprechen die Entwickler: Persönliche KI-Assistenten liefern künftig keine ellenlangen Linklisten mehr, sondern elegant formulierte Zusammenfassungen des Weltwissens. Aus absurden Mengen von Trainingsdaten, die von Webseiten, Blogs, Tweets, Fachliteratur und Behördendokumenten gesaugt werden, spiegele sich schon bald die Realität wider, wenn die statistischen Modelle zur Textanalyse nur ausgefeilt genug sind. Diese Transformation zur Re-Realität gelingt tatsächlich Woche für Woche atemberaubend besser. Nur zersetzt generative KI dabei die Wirklichkeit, und das nicht etwa wegen vorübergehender technischer Unzulänglichkeiten, sondern als fundamentales Designprinzip.
Die Idee zum Wirsing-Experiment entstand beim Essen des krausblättrigen Gemüses. Über Wochen hatte ich die Debatte im Deutschen Fotorat moderiert und an der gemeinsamen Stellungnahme der Fotoverbände zu KI-generierten fotorealistischen Bildern gefeilt. Wir bemühten uns um Ausgewogenheit bei berufsspezifischen Bedenken und juristische Korrektheit zu Aspekten wie Urheberrechtsverletzungen und Kennzeichnungspflichten. Doch in mir nagte das Gefühl, dass dies alles vielleicht nur Fußnoten sein könnten an der Schwelle zu einer Welt, in der Bullshit das neue Normal ist.
Wäre nicht z. B. denkbar, dass das gehaltvolle Gewächs nach seinem Entdecker benannt ist? Gibt es vielleicht einen Dr. Anton Wirsing, der aus seinem Spleen für gesunde Ernährung einen Beruf gemacht hat?
Nach dem Mittagessen tippte ich in das Prompt-Fenster von ChatGPT – zur besseren Funktion auf Englisch, hier unbearbeitet vom KI-System Deepl ins Deutsche übersetzt: »Schreiben Sie eine umfassende Biografie über Dr. Anton Wirsing, in der Sie seine Kindheit und prägenden Jahre in Österreich, seine Emigration in die USA während des Zweiten Weltkriegs und seine Pionierrolle bei der Etablierung der Ernährung als Wissenschaft in Harvard beschreiben.«
Der Bot antwortete ohne Zögern: Dr. Anton Wirsing war ein renommierter Ernährungswissenschaftler und -forscher, der bedeutende Beiträge zur Ernährungswissenschaft leistete. Er wurde am 2. Juli 1902 in Wien, Österreich, geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Er war das älteste von drei Geschwistern in einer bürgerlichen Familie. Sein Vater war Beamter, seine Mutter war Hausfrau. Im Jahr 1924 promovierte er in Chemie an der Universität. Nach seiner Promotion arbeitete er als Assistenzprofessor für Biochemie an der Universität Wien. Als Nazideutschland 1938 Österreich annektierte, war Wirsing, der Jude war, gezwungen, aus seiner Heimat zu fliehen. Er begann seine Arbeit an der School of Public Health der Harvard University, wo er eine Vorreiterrolle bei der Etablierung der Ernährung als Wissenschaft spielte. Er erforschte die Rolle von Vitaminen und Mineralien bei der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten wie Rachitis und Skorbut, und er wurde zu einem der führenden Ernährungsforscher der Welt.
Mühelos brachten weitere Nachfragen erstaunliche Details über den Gelehrten zutage. So arbeitete Wirsing offenbar mit dem real existierenden zweifachen Nobelpreisträger und Vitamin-Apostel Linus Pauling zusammen, leistete Pionierarbeit bei der Proteinkristallisation und war in den 1960er Jahren in einen Skandal um fehlerhafte Messgeräte bei Atomwaffentests verwickelt.
Für das Hinzudichten angeblicher Fakten in Abwesenheit von echten Informationen hat sich in der KI der Begriff »Halluzination« eingebürgert. So erhielt Politiker Wirsing neben dem französischen Großkreuz der Ehrenlegion (1976) auch den Verdienstorden von Baden-Württemberg (1977) und die Robert-Schuman-Medaille (1980). Vermutlich ist aus der Sicht eines Sprachmodells geradezu unausweichlich, dass Politiker früher oder später irgendeinen Orden bekommen.
Wie versierte menschliche Hochstapler garniert ein Sprachmodell seinen Output mit unzähligen Details, deren schiere Menge nach gängiger psychologischer Lehrmeinung haarsträubende Geschichten für menschliche Gegenüber wahrer wirken lässt – nach dem Prinzip »Da muss doch was dran sein«.
So erfindet ChatGPT zu Gretchen von Wirsing gleich ein angebliches Buch des realen Goetheforschers Hans Gerhard Gräf mit dem Titel »Goethes Gretchen und ihr reales Vorbild«.
Fragte ich GPT 3.5, so hat Angela Merkel im Jahr 2013 Wirsings Verdienste in ihrer Ansprache zum 50-jährigen Jubiläum der Elysée-Verträge mit folgenden Worten gewürdigt: »Carl Wirsing war ein großer Europäer, der sich unermüdlich für die Versöhnung und Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich eingesetzt hat. Sein Weitblick und seine Führungsstärke waren entscheidend für den Aufbau des Deutsch-Französischen Jugendwerks, das seitdem zu einem Modell für internationale Zusammenarbeit und Freundschaft geworden ist.«
Man könnte mutmaßen, dass KI-Systeme besonders im Trainingsmaterial aus der politischen Sphäre eine große Menge an recycelten Leerformeln finden und diese umso plausibler zu Politiker-Retortensprech zusammensetzen können. Wie ungleich schwieriger ist es hingegen, solche Fiktionen zu entlarven. Wer macht sich die Mühe, das vollständige Manuskript der Merkel-Rede aufzutreiben, um nachzuweisen, dass ein Carl Wirsing nicht darin vorkommt?
Wenn mediale Konkurrenten mit interessanten Details zu mutmaßlichen Skandalen und pikanten Backstories höhere Klickraten erzielen, ist ziemlich klar, welche Version der Re-Realität sich durchsetzt. Schon bald wird der Wirsing-Effekt mit absichtlich oder aus Versehen verbreiteten Fiktionen die Trainigsdaten der nächsten KI-Generation vergiften und die Algorithmen der Suchmaschinen aushebeln, die Menge und Verlinkung von Informationen als Maß für deren inhaltliche Relevanz benutzen.
Heute ist jedes Medium ein Onlineprodukt. Wer kann da widerstehen, ein packendes Bild zu bringen, das »die anderen« schon haben? Wer hat Zeit und Nerven, ein griffiges Zitat über zwei bis drei Ecken nachzuprüfen? Und welche Rolle spielen klassische Medien mit hoffentlich kompetenten Redakteuren noch, wenn der größte Teil des öffentlichen Diskurses auf Social-Media-Plattformen stattfindet?
In dem 120-seitigen EU-Regulationsentwurf zur KI kommt das Wort »Medien« nicht einmal vor. Stattdessen wird verwaltungsrechtlich präzise definiert, dass zu »Hoch-Risiko-KI-Systemen« auch Anwendungen zählen, »die in der allgemeinen oder beruflichen Bildung eingesetzt werden«. Auch hält man es für wichtig, das Anbringen von CE-Kennzeichen auf KI-Produkten präzise zu regulieren.
Wie füllen Medienpraktiker das Vakuum, in dem Gesetzgeber voraussichtlich noch jahrelang um Vorgaben ringen?
Durch eine »Kennzeichnung« für KI-Inhalte? An die werden sich böswillige Manipulatoren natürlich nicht halten – und sie wären, konsequent durchgesetzt, bald so allgegenwärtig und abstumpfend wie die Beschriftung von »Serviervorschlägen« auf Lebensmittelverpackungen, die findige Konzernjuristen ersannen, damit ihnen keine Verbraucherinnen und Verbraucher an den Karren fahren können, wenn die Tiefkühlerbsen nach dem Auftauen nicht so knackig grün aussehen wie die aufgedruckten. Im Duett aus generativen Text- und Bildgeneratoren wird der Weg in die Re-Realität immer verführerischer.
Christoph Künne, Chefredakteur des Bildbearbeitungsmagazins »Docma« kreierte mit einem KI-Generator innerhalb von Stunden eine Auswahl von Pressefotos von Politiker Carl Wirsing im Stil der 1960er bis 1970er Jahre.
Bei solch subtiler Irreführung würde vermutlich kaum jemand zweimal hinsehen, im Gegensatz zu den KI-Bildern von Trumps angeblich gewaltsamer Verhaftung und dem Papst im Designeroutfit, die unlängst als spektakuläre Beispiel-Fakes durch alle Kanäle liefen.
»Im direkten Vergleich zum Foto ist das KI-Bild leider meist geiler«, fasst »Profifoto«-Chefredakteur Thomas Gerwers seine jüngsten Erfahrungen zusammen. Auf dem renommierten Fotofestival »Rencontres Arles« präsentierte seine Pop-up-Galerie neben Fotos namhafter Künstler eine Projektion ausschließlich KI-generierter Bilder aus dem Instagram-Projekt »Prompt Forum«.
Viele dieser Bilder zeigen scheinbar ausgefeiltes Fotografenhandwerk: Gekonnt gesetztes hartes Blitzlicht oder kontrastreiche Schlagschatten. Große Teile des fachkundigen Publikums überlasen die KI-Beschriftung und waren umso geschockter, als man sie später darauf hinwies.
Hier ist es müßig, sich über unfaire Wettbewerbsvorteile oder Täuschung zu ereifern, denn Künstlerinnen und Künstler war schon immer jedes Mittel recht, sich von der Wirklichkeit zu emanzipieren. Doch im Kontext von Dokumentation und Journalismus ist schon das Wissen, man könne seinen Augen nicht mehr trauen, so zersetzend wie die Fälschung selbst.
Eine Art Gütesiegel für authentische Fotos sollte künftig zum Markenkern von Informationsmedien gehören. Dann muss man sich auch nicht rechtfertigen, wenn die Wirklichkeit weniger knackig rüberkommt.
Wer sich gegen den spektakulären Voll-Fake wappnet, übersieht die schleichende Grenzverschiebung, die auch in der klassischen Bildbearbeitung längst stattfindet. So erhalten Standardprogramme derzeit immer mehr KI-unterstützte Funktionen, die beispielsweise Partien in realen Bildern neu berechnen, oder Fotos über ihren ursprünglichen Rahmen hinaus erweitern und dabei überzeugend angeschnittene Köpfe, Füße und Landschaften ergänzen.
Wo schon heute bei Zusammenfassungen von Fußballspielen Reportertexte mit KI-Hilfe aus Spielstandstatistiken erzeugt werden, mag auch die Hemmschwelle nicht allzu hoch sein, andere Berichtsgewerke an Softwarewerkzeuge zu delegieren. Die Freude in manchen Verlagsgeschäftsführungen über Einsparpotenziale ist jedenfalls unüberhörbar.
Wo bleiben die Initiativen der großen Medienhäuser, Agenturen und Verlage, ihren Umgang mit generativen Systemen in Redaktionsstatuten zu verankern? Die lapidare Zusicherung, »So was machen wir nicht«, reicht nicht, wenn die generelle Tendenz eher »Schau’n wir mal« lautet. Konkrete Standards zu definieren wird anstrengend, und diese dann auch einzuhalten leider etwas teurer. Keine attraktiven Aussichten in Zeiten, in denen Produktions-Euro pro Nutzerklick die relevante Kennzahl ist.