Überraschend hat die Stadt Halle an der Saale den Zuschlag bekommen für jenes sagenhafte Zukunftszentrum, auf das sich jetzt die Hoffnungen gründen, die Transformationswehen der deutschen Einheit zu heilen. Zweifel haben dieses Projekt immer begleitet. Allein die vorhandenen Einrichtungen, die sich seit Jahr und Tag mit den Folgen der SED-Diktatur, aber eben auch den gesellschaftlichen Verwerfungen nach der Wiedervereinigung befassen, fürchten natürlich, dass der finanzielle Kuchen für sie künftig kleiner wird, an dem, sagen wir es einmal ehrlich, in den vergangenen Jahren nicht geknausert wurde. Ihre Liste ist lang, und sie wurde durch das federführende Innenministerium für das Zukunftsprojekt im Vorfeld akribisch erstellt. Aber das schlechte Gewissen der Politik war im 30. Einheitsjahr dann doch zu groß und das Erschrecken darüber, welcher soziale und politische Sprengstoff sich in den neuen Ländern angesammelt hatte, als dass man nicht mit einer großen symbolischen Geste hätte reagieren wollen. Und schließlich war es auch ein Signal Merkels an den ostdeutschen Teil des sozialdemokratischen Partners in der damaligen Koalition.
Nun wird es also ein »Zukunftszentrum für europäische Transformation und Deutsche Einheit« geben, eine Art eierlegende Wollmilchsau für geplante 200 Millionen Euro und 40 Millionen Euro Betriebskosten, von dem man eigentlich nur weiß, dass es ein Gebäude von herausragender Qualität werden soll, eine Art Guggenheim-Museum für den Osten mit einer erhofften Million an Besuchern. Halle jedenfalls darf sich freuen über den zu beabsichtigten Bilbao-Effekt an der Saale. Mit handfesten Vorteilen hat sich die Stadt gegen ihre Mitbewerber durchgesetzt. Man kann sie von allen Seiten mit allen Verkehrsmitteln bestens erreichen; und man kann sie natürlich auch genauso schnell wieder verlassen. Es wäre – entgegen allen Beteuerungen – nicht die erste der nationalen Großeinrichtungen, der das dort widerfährt.
Für Halle, die Melancholische, die graue Diva, wie man sie einst nannte, ist das Zukunftszentrum allemal ein Gewinn. Denn es gibt ihr die Chance, ihre eigenen urbanen Probleme zu lösen. Der Stadt fehlt ein repräsentatives Stadttor, und sie leidet bis heute unter dem hässlichen Erbe der sozialistischen Baupolitik. Wenn man so will, dann ist der als Standort des Zukunftszentrums in Aussicht genommene Riebeckplatz, der zu DDR-Zeiten Thälmannplatz hieß, in vielerlei Hinsicht prädestiniert. Er wirkt, wer ihn kennt, wie ein Unort, wie ein riesiges in Beton gegossenes Transitorium – mit dem zweifelhaften Ruf, der verkehrsträchtigste Knotenpunkt Mitteldeutschlands zu sein. Kaum irgendwo in dieser Stadt ist der Verlust des alten Stadtbilds so schmerzhaft zu spüren wie dort; kaum irgendwo hat die historische Tiefenenttrümmerung so radikal funktioniert. Am Riebeckplatz beginnt jene sozialistische Magistrale, die auf die proletarische Neustadt zuläuft und die alte Bürgerstadt konsequent ignoriert. Der berühmte Richard Paulick hat beide entworfen. Halle-Neustadt war das logische Gegenstück.
Man hätte sich keinen kompromissloseren Ort für ein solches Zukunftszentrum vorstellen können als diesen Riebeckplatz. Wo die Schneisen des alten Regimes immer noch tief in das Weichbild schneiden; wo die Stadtpolitik nach der Wende nur die maroden Verkehrsrampen reparierte; wo für kühne Visionen das Geld fehlte oder auch die finale Idee. Am Riebeckplatz kann man wunderbar studieren, wie das Vergangene beharrt und das Neue nicht kommt, wie ein Land wieder zu funktionieren beginnt, ohne dass das die Seelen erwärmt. Dieser Riebeckplatz ist ein Ort, wo man überall sein könnte und auch nirgends; wo es keine Vergangenheit gibt und noch nicht einmal eine Präsenz. Es wird sich bald zeigen müssen, ob man in Halle ein neues Kapitel der Einheit ersinnen will oder das alte nur überschreiben.
Denn natürlich bedeutet die Idee dieses Zukunftszentrums einen Paradigmenwechsel in der Sicht auf die Wende. Die Freiheit, die doch eine Selbstbefreiung war, ist verblasst und wird fast als Zumutung empfunden; als bedrückende Erfahrung einer fremd gebliebenen, einer aufoktroyierten Realität. Nicht mehr die friedliche Revolution ist das verbindende Narrativ der Menschen im Osten, sondern der brachiale Einbruch eines sozial nur kaschierten, aber doch fremden, kapitalistischen Regimes. Die Treuhand ist dafür das Symbol und der zentrale Erinnerungsort geworden. Das »Primat einer prinzipiell positiven Bewertung der Deutschen Einheit« werde jetzt endlich infrage gestellt.
Man kann diesen Wandel an vielen Indizien ablesen. Das Beiseitedrängen der alten Bürgerrechtler fällt auf. Der Revolutionsadel von damals ist müde geworden, und er wird auch nicht mehr als die repräsentative Stimme im Osten akzeptiert. Rolf Schwanitz aus der langen Reihe der Ostbeauftragten, hatte noch, wie er gerne erzählt, immer zwei Dokumente zur Hand. Das geheime Schürer-Papier, das dem Politbüro die Wahrheit über die Zahlungsunfähigkeit der DDR-Wirtschaft offenbarte, und seine Pkw-Anmeldung von 1980, die ihm eine zwölfjährige Anwartschaft auf einen Trabi verhieß. Aber so etwas will heute kaum jemand mehr hören. Aus der Freiheitsgeschichte ist eine Enttäuschungserzählung geworden. Und denen, die sich diesem Umschlag widersetzen, steht die politische Ausmusterung bevor.
Man kann das am Konflikt um das Stasi-Museum in Leipzig, der »Runden Ecke«, sehr genau beobachten. Der dortige Leiter, dem das alte Regime übel mitgespielt hat, verweigert sich jeder Veränderung oder Verhübschung. Igitt, schreibt die junge Reporterin von der Ostausgabe der »Zeit«. Da rieche es ja wirklich noch wie in der DDR. Man will diesen Geruch verständlicherweise vergessen; aber mit ihm verschwindet auch die Erinnerung an die furchtbare Zeit. Ich habe diesen Ort mit einer bekannten Bürgerrechtlerin vor Jahren besucht. Hinter uns fiel die Zellentür plötzlich ins Schloss. Den erschrockenen Blick werde ich nie vergessen und die Panik, die aus ihren Augen sprach.
Vielleicht will man das alles nicht mehr hören, und die Erlebnisgeneration stirbt in den kommenden Jahren ohnehin aus. Aber so elend, wie die Fortsetzungsgeschichte der Einheit jetzt erzählt wird, so elend sind die Dinge in Wirklichkeit nicht. Es hat einen Aufruf kritischer Begleiter des Zukunftsprojekts in Halle gegeben, der vor einem deutschen Krähwinkel warnt; der den Blick öffnen will auf die Gesellschaften Osteuropas, wo manches anders verlief und vieles genauso. Angesichts des Überfalls Putins auf die Ukraine stellt sich die zentrale Frage doch neu: Was von diesen verhängnisvollen Entwicklungen hat seine Wurzeln im alten sowjetischen Erbe; und was davon geht auf das Konto einer wilden postkommunistischen Zeit? Man kann in diesem Zusammenhang tatsächlich von missglückter Transformation sprechen. Und nach dem Kriegsschock vor gut einem Jahr wäre es dringend geboten, unsere Kenntnis von unseren Nachbarn im Osten ganz wesentlich zu erhöhen. Aber bei aller Berücksichtigung der disruptiven 1990er Jahre und dem, was eine entfesselte Marktwirtschaft angerichtet hat: Die friedliche Revolution, die das Ende der kommunistischen Herrschaft erzwang, wollte die Freiheit und ein offenes, demokratisches Land. Das ist doch auf eine bewundernswert friedliche Weise gelungen.