Was macht die intellektuelle Öffentlichkeit in Deutschland? Sie diskutiert mal wieder über die eigene Vergangenheit und eine passende Form des Erinnerns. Den Anstoß dazu gab das Rahmenkonzept zur Erinnerungskultur aus dem Hause Claudia Roths, in dem die einen den fahrlässigen Tabubruch erkennen wollen, die anderen aber um ihre auskömmlichen Zuwendungen fürchten. Dabei hat dieses Konzept zumindest eines bewirkt, nämlich die öffentliche Behandlung einer eminent wichtigen Frage: Wie wollen wir künftig mit unserer besonderen Verantwortung für den Holocaust umgehen – unter postkolonialen Vorzeichen? Die Debatte darüber schwelt schon eine Weile, seit man in akademischen Aktivistenkreisen allen Ernstes dazu aufgerufen hat, den Holocaust doch endlich zu dekolonialisieren. »Multidirektionales Erinnern«, heißt das Stichwort, das die Wissenschaft dazu geliefert hat. Aber seit den massiven antiisraelischen und immer offenkundiger auch antisemitischen Krawallen auf deutschen Straßen wird deutlich, dass es sich hierbei um alles andere als eine akademische Frage handelt. Es geht vielmehr darum, wie eine künftige deutsche Einwanderungsgesellschaft mit dem singulären Menschheitsverbrechen umgehen will, das die deutsche Gedenkkultur nach dem Krieg auf einzigartige Weise bestimmt und geprägt hat.

Die Politik kann noch so oft und noch so beschwörend von der Sicherheit Israels als einer deutschen Staatsräson reden; wenn es darüber keinen gesellschaftlichen Konsens mehr gibt, dann überlebt allenfalls noch eine dürre, strafbewehrte Formel. Man kann diesen drohenden Wandel schon am Rückgang der herkömmlichen Gedenkstättenförderung sehen. Die Schauplätze des Verbrechens verblassen, während die »postkoloniale Gegenerzählung«, wie der Historiker Martin Sabrow sie nennt, immer mehr an Bedeutung gewinnt. Aber selbst der Versuch, die Singularität des Holocausts über die Idee eines Menschheitsverbrechens als dem Ursprung späterer Völkermordtaten retten zu wollen, die Shoah mithin also zu globalisieren, wird der besonderen Verantwortung der Deutschen nicht mehr gerecht. Jenem einzigartigen Band unserer Geschichte, wie es Jürgen Habermas einst formulierte, das die Generationen über alle Zeitläufte hinweg untrennbar zusammenhält.

Andreas Kilb hat in seiner vehementen Kritik in der FAZ an der Rothschen Geschichtspolitik auf die Einzigartigkeit dieser deutschen Gedenkstättenlandschaft hingewiesen. Während die Nationen um uns herum die Trauer um ihre Toten mit deren Heldentaten verbinden können, steht bei uns die Schuld im Mittelpunkt unseres Gedenkens. Sie ist, in aller Vorsicht ausgedrückt, unsere Zivilreligion geworden. Daraus bezog diese ihre identitätsstiftende Kraft, und deshalb vermochte sie die Trümmer unserer Geschichte nach dem Krieg auch wieder zu einem neuen Staatsverständnis zusammenzufügen. Sie war die unhinterfragbare Grundlage unseres demokratischen Neubeginns, weshalb eine Debatte, wie wir sie heute führen, in der alten Bundesrepublik kaum denkbar gewesen wäre. Hier von Schamkultur zu reden, wie es der Historiker Martin Sabrow tut, verbietet sich also von selbst. Diese Zivilreligion ist zum besonderen Kennzeichen unserer Nation geworden, und wohl deshalb beginnt man in postnationalen und postkolonialen Zeiten mutwillig daran zu rütteln. Es ist das letzte Bollwerk des Eigenen, das einer frei verfügbaren und beliebig flottierenden Welt entgegensteht.

Ob die Bundeskulturministerin »ihren migrantischen Mitbürgern die deutsche Gedenkkultur aufnötigen« wolle, fragt die FAZ besorgt angesichts dieses neuen Rahmenkonzepts. Aber das genaue Gegenteil ist doch der Fall. Ihre Intention ist eine andere. Es gibt nicht mehr ein verbindliches Erbe; und die besondere Wahrnehmbarkeit soll in Zukunft verschwinden. Die Dekonstruktion der nationalen Geschichte schreitet eben voran, und sie hat längst jene Kapitel erreicht, die in der alten Westrepublik noch zum unverzichtbaren Erbe zählten. Man kann das im Umgang mit der klassischen Moderne sehr genau sehen. Ihre Rückgewinnung aus den Nazi-Jahren der Verfemung galt als Ausweis einer geläuterten weltoffenen Republik. Heute müssen sich die deutschen Expressionisten vorhalten lassen, auch nur ein gewöhnlicher Teil der weißen Suprematie gewesen zu sein. Der erstaunliche Gestus der Neugier, der bewussten Hinwendung zum Anderen, zu, wie man sagte, exotischen Welten, wird darüber in die historische Kloake geworfen. Kulturelle Aneignung, eigentlich ein Grundzug jeder Kultur, ist zum identitären Schimpfwort verkommen.

Der sich schon damals postnational gebenden 68er-Generation ging es am Ende immer noch um das eigene Land. In postkolonialen Debatten sucht man solche Bezüge heute vergebens. Eine diverse Gesellschaft, so die rigide Botschaft, verlangt eine diverse Erinnerungskultur. Alles andere wäre von Übel.

Nachdem schon niemand mehr wagt, ernsthaft von einer gemeinsamen, einer das Zusammenleben ermöglichenden Leitkultur zu reden, gerät jetzt auch die gemeinsame Erinnerung unserer Nation unter die Räder. Parallele Sozialwelten und diverse Identitäten haben wir schon. Jetzt fällt auch ihre rückwärtige historische Begründung.

Man kann das Resultat solcher Tendenzen an der deutsch-deutschen Gedenklandschaft bereits sehen; auf beiden Seiten hat man doch längst begonnen, sich mit dem eigenen Traditionsverständnis einzufrieden.

Der westdeutsche Teil unserer Gesellschaft steht dem ostdeutschen inzwischen so ratlos gegenüber wie umgekehrt. Aber die historische Bezugsgröße blieb immer noch die Einheit der Nation und ihrer gemeinsamen Erinnerung. Daran versucht man im Hause Roth jetzt die Axt anzulegen. In einem grandiosen und folgenschweren Missverständnis, was die künftige deutsche Einwanderungsgesellschaft tatsächlich an Wiedererkennbarkeit braucht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024.