Es gibt Spielarten von Superlativen, die zumeist unangemessen überhöhen: »revolutionär« zählt dazu, vor allem im Kontext von Neuerungen. Doch die erste offizielle Feuerbestattung in Deutschland am 9. Oktober 1874 veränderte nicht nur radikal die Art und Weise, wie wir leben und vergehen: Es war die Geburtsstunde einer neuen Kulturtechnik, die das Bestattungswesen in Deutschland wahrlich revolutionierte. Als Ausdruck gesellschaftlichen und politischen Wandels avancierte die Einäscherung zu einer Speerspitze der Linken gegen konservativ-bürgerliche und christlich geprägte Strukturen. Mehr noch: Die Kremation veränderte unsere Trauerrituale, die Formen des Abschiednehmens allgemein und vor allem auch das Bild unserer Friedhöfe nachhaltig. Heute, 150 Jahre später, ist unsere Abschiedskultur ohne die Feuerbestattung undenkbar, was sich allein schon an Zahlen ablesen lässt: In Deutschland werden 75 Prozent der Verstorbenen kremiert, in den ostdeutschen Bundesländern liegt der Anteil sogar noch höher.

Doch diese Entwicklung war 1874 nicht abzusehen. Als damals im Dresdner Glaswerk der Firma Siemens an der Freiberger Straße die weltweit erste moderne Feuerbestattung stattfand, war dies zunächst ein Ausdruck des Zeitgeists: Uneingeschränkter Fortschrittsglaube, die Technisierungswelle der Hochindustrialisierung sowie die Säkularisierung, verbunden mit wissenschaftlichem Denken, bereiteten den Boden. In Anbetracht rasant wachsender Städte und ausufernder Überbevölkerung sahen vor allem Mediziner in der Leichenverbrennung eine hygienisch unbedenkliche, als »vernünftig« proklamierte Alternative zur Erdbestattung. Zugleich schien die Kremation eine Lösung für den vielerorts kaum noch ausreichenden Platzbedarf an öffentlichen Begräbnisflächen, der zuweilen sogar dazu führte, dass man Verstorbene in Massengräbern übereinanderstapelte. Allein: Es fehlte die Technik einer hygienisch sauberen Verbrennung.

Hier kam der Ingenieur Friedrich Siemens ins Spiel, der für seine Glasbläserei den sogenannten »Regenerativ-Ofen« ersonnen hatte. Auf dessen Basis entwickelte der Unternehmer zusammen mit seinem Chefingenieur Richard Schneider eine Einäscherungstechnik, die allen Erfordernissen der Zeit gerecht wurde. Mit der erfolgreichen Inbetriebnahme am 9. Oktober 1874 wurde übrigens als Erstes eine Frau eingeäschert, die Engländerin Katherine Dilke. Sie hatte ihre Verbrennung testamentarisch verfügt.

Schnell machte die bahnbrechende Entwicklung die Runde, in ganz Europa gründeten sich Vereine zur Feuerbestattung, und bereits 1876 kam es zu einem ersten europäischen Kongress in Dresden. Das erste deutsche Krematorium wurde dann am 10. Dezember 1878 in Gotha eröffnet und ist heute noch – natürlich mit moderner Technik – in Betrieb. Kurz darauf folgten Bauten in Heidelberg und Hamburg – die Einäscherung etablierte sich in ganz Deutschland.

Die Geschichte der Kremation war dabei stets von einer engen Verbindung von Politik und Kultur geprägt: Waren es anfänglich bürgerliche Kräfte, die sich für die Kremation einsetzen, erkannte die linke Arbeiterbewegung schnell das revolutionäre Potenzial der neuen Kulturtechnik. Für die Sozialdemokratie war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts der perfekte Gegenentwurf zur bürgerlich-christlich geprägten Friedhofskultur der damaligen Zeit, in der man nur allzu gerne mit pompösen Grabanlagen Ansehen und Reichtum zur Schau stellte. Die revolutionäre Kraft lag auch in sich neu bildenden Trauerritualen, die ohne christlichen Rahmen auskamen. Die Kirchen stemmten sich deshalb vehement gegen die neue Bestattungsform, konterkarierte diese doch auch das Bild einer leiblichen Auferstehung.

Nach dem Ersten Weltkrieg verzeichnete die Feuerbestattung einen immer größeren Zulauf vor allem in ärmeren Schichten. Bestattungen waren für die meisten Menschen in den wirtschaftlichen Krisenzeiten der Weimarer Republik finanziell kaum zu stemmen. Hier boten – von der Sozialdemokratie initiierte – solidarisch organisierte Feuerbestattungskassen der Arbeiterschicht effektive Abhilfe. Zugleich entstanden erste Friedhöfe, die allein Feuerbestattungen vorbehalten waren. Imponierende Krematoriums-Neubauten dieser Zeit wie auf dem Urnenhain Tolkewitz in Dresden legen sichtbares Zeugnis vom wachsenden Selbstbewusstsein der Bewegung ab.

Doch dann kam es zu der fürchterlichen Aneignung der Kulturtechnik durch die Nationalsozialisten. »Die Krematorien wurden zum letzten Glied jenes Systems massenhaften Tötens und Vernichtens, das in den Konzentrations- und Vernichtungslagern herrschte«, wie es Norbert Fischer formuliert, der seit Jahrzehnten intensiv zur Kremation forscht und publiziert. Die fortgeschrittene Einäscherungstechnologie ermöglichte es den Nationalsozialisten, die Spuren ihrer millionenfachen Verbrechen systematisch zu beseitigen. »Der Verbrennungsapparat – einst als Fanal des Fortschritts gefeiert – wurde zum Instrument der Massenvernichtung«, so Kulturwissenschaftler Fischer.

Gleichwohl endete die Geschichte der Kremation nicht mit dem Ende des Nationalsozialismus. Ganz im Gegenteil: In der DDR knüpfte man an die alte sozialistische Tradition an und proklamierte die Einäscherung als angemessene Bestattungsform. In Westdeutschland hingegen führte diese Kulturtechnik zunächst ein Schattendasein, was sich selbst 1963 kaum änderte, als die Katholische Kirche auf dem zweiten vatikanischen Konzil die Feuerbestattung als gleichwertig zur Erdbestattung anerkannte. Die evangelische Kirche hatte schon lange zuvor schrittweise ihre Ablehnung abgelegt.

Dass die Kremation auch im Westen ihren Siegeszug antreten konnte, lag entscheidend an der gewinnorientierten Bestatterbranche. Sie entdeckte ab den 1980er Jahren den Betrieb von privatwirtschaftlich geführten Krematorien als lukratives Geschäftsfeld. Sie bewarb die Feuerbestattung dementsprechend bei ihrer Klientel – vor allem auch als preiswerte Alternative zum klassischen Doppelgrab. Zugleich wuchs das Bedürfnis nach pflegeleichten oder pflegearmen Gräbern, dem die Friedhöfe mit entsprechenden Urnengrabanlagen entsprachen. Und auch alternative Bestattungsformen wie in Wäldern trugen zur wachsenden Verbreitung bei.

Doch so wichtig all diese kulturellen, politischen oder finanziellen Aspekte für die Erfolgsgeschichte der Feuerbestattung gewesen sein mögen: Sie ist ohne ihre zutiefst menschliche Dimension undenkbar. Vielen Menschen war und ist es eine äußerst unliebsame Vorstellung, dass die Natur ihren verstorbenen Körper im Lauf der Jahre zersetzt. Für sie bietet die Kremation eine annehmbare Alternative, wobei sich wohl nur die wenigsten bewusst machen, was konkret damit verbunden ist. Denn der technische Aufwand bei der Kremation ist groß und dementsprechend ressourcenbindend und energieaufwendig.

So zeigt sich heute, 150 Jahre später, wie bei vielen anderen technischen Errungenschaften der Neuzeit auch bei der Feuerbestattung eine gravierende Kehrseite: Sie ist – verglichen mit einer ortsnahen Erdbestattung – umweltbelastend und wenig nachhaltig. So müssen beispielsweise die Filter, die für die Verbrennung medikamentenbelasteter Körper unerlässlich sind, als hochgiftiger Sondermüll entsorgt werden. Wer heute möchte, dass sein letzter Fußabdruck auf Erden ein »grüner« ist, entscheidet sich gegen die Kremation. Zugleich wird weltweit an ökologisch sinnvolleren Alternativen gearbeitet wie in Deutschland an der sogenannten »Reerdigung«, die in 40 Tagen im Rahmen einer Art Schnellkompostierung Körper zu Humus transformiert. Wie vor 150 Jahren weht also auch heute wieder ein Wind der Veränderung im Bestattungswesen. Ob dieser – wie die Feuerbestattung – umwälzende Kraft entfalten kann, bleibt abzuwarten. Bis dahin zählt die Kremation zu den wenigen revolutionären Kulturtechniken, die über so lange Zeit unsere Welt maßgeblich verändert haben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2024.