Das Bezirksklinikum Mainkofen ist heute ein freundlicher Ort mit Grünanlagen – eine Klinik mit herausragendem Ruf. Dort suchte ich vor ein paar Jahren Antworten über das Schicksal eines Familienmitglieds, von dem es schemenhafte alte Fotos gab und einen Vornamen. Der Rest war Geheimnis, Trauer und Hilflosigkeit. In Mainkofen traf ich Gerhard Schneider, den damaligen Krankenhausdirektor, der mir von Akten aus der NS-Zeit erzählte. Er hatte sie vor der Vernichtung gerettet und brachte so ins Rollen, was lange verdrängt worden war: die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der eigenen Einrichtung.

In Mainkofen erfahren wir heute von Paul Loh, 1917 in der Nähe von Hamburg geboren. Ein freundlicher Junge, der gerne Schlager lauthals mitsang. Nur das Lesen und Schreiben fiel ihm schwer. Die Pfleger mochten ihn. Mit Hitlers Gewaltherrschaft ändert sich das. Jetzt galt er als »erbkrank«. Paul starb angeblich an Tuberkulose. Tatsächlich fiel er dem Bayerischen Hungerkost-Erlass zum Opfer. Heute erinnert eine Gedenktafel an ihn. Von einem Foto blickt uns ein Junge entgegen, der aussieht, als hätte er gerne Fußball gespielt.

300.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen – Kinder, Erwachsene, Kriegsversehrte, Tuberkulosekranke – starben im Rahmen der NS-»Euthanasie«. 400.000 Menschen wurden Opfer von Zwangssterilisation. An die Stelle des individuellen Wohls trat im Nationalsozialismus der abstrakte Volkskörper«. »Aussonderung« war jetzt ärztliche Aufgabe, als gehörten Krankheit, Behinderung, Schwäche nicht zum Wesen des Menschseins, zur »conditio humana«. Es ging um die »Optimierung des Volkskörpers«, wie Hans-Walter Schmuhl schrieb – die Kriegstauglichkeit war immer im Blick. Verharmlosend wurden die Morde als »Euthanasie« bezeichnet – als schöner Tod und »Befreiung« von einem angeblich »lebensunwerten« Leben. Die Rede ist von »Ballastexistenzen«.

Unverrückbar geglaubte Grund- und Menschenrechte waren damit außer Kraft gesetzt. In der Folge verschwanden Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Aus der Sorge, das Stigma könnte auf die Angehörigen übergehen, wurden die Opfer auch später nicht beim Namen genannt. Umso wichtiger ist es, heute an ihre Geschichten zu erinnern. An die von Dorothea Buck, die Opfer einer Zwangssterilisation wurde. Im Alter von 19 Jahren wurde Schizophrenie bei ihr diagnostiziert. Sie kam in die Psychiatrie bei Frankfurt. Sie überlebte die Zwangssterilisation, anders als das bekannteste Opfer der NS-»Euthanasie«, Marianne Schönfelder, die in Großschweidnitz starb. Sie ist die »Tante Marianne«, der Gerhard Richter mit einem Bild ein Denkmal schuf.

Wie waren diese Verbrechen möglich mitten in der Gesellschaft und von denen verübt, die heilen und helfen sollten? Die Frage muss uns umtreiben, auch 80 Jahre nach Kriegsende. Ebenso wie die Frage: Was geschah mit den Tätern, was mit dem Menschenbild, das sie vertraten? Das Thema ist wieder bedrückend aktuell. »Euthanasie ist die Lösung« steht auf dem Ziegelstein, mit dem im Mai 2024 die gläserne Eingangstür eines Wohnhauses der »Lebenshilfe« in Mönchengladbach eingeschlagen wurde. Die Tat löste Angst aus. Die Vorsitzende des Vereins, der Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen unterstützt, die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, spricht davon, dass sich Menschen mit Behinderungen »immer weniger willkommen« fühlen. War das die zynische Tat eines Einzelnen? Oder die Folge einer Debatte, in der AfD-Funktionäre Inklusion als »Belastungsfaktor« bezeichnen und von »Idioten« sprechen?

Der Antrag »Opfer von NS-›Euthanasie‹ und Zwangssterilisation – Aufarbeitung intensivieren«, von Union, SPD, Grünen und FDP, den der Deutschen Bundestag Ende Januar einstimmig verabschiedet hat, setzt da an. Für mich als Mitinitiator des Antrags schließt sich damit auch ein Kreis. Mit dem Antrag bekennt sich der Bundestag ausdrücklich dazu, die Opfer der NS-»Euthanasie« und von Zwangssterilisation als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen und distanziert sich mit Nachdruck vom ideologischen Inhalt des Begriffs »Euthanasie«. Er betont, dass niemand das Recht hat, das Leben eines anderen für »lebensunwert« zu erklären. Das Ziel ist es, ein großes Projekt zur Sicherung von Patientenakten und weiteren Quelle zu starten, um Lücken in der Nachkriegsgeschichte nach 1945 aufzuarbeiten. Zum anderen soll eine nationale Fachtagung durchgeführt werden unter Beteiligung vieler Fachleute, der Gedenkstätten, Opferverbände und -initiativen, um Fragen zu Erhalt und Aufarbeitung der Akten zu erörtern. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen in die Ausbildung medizinischer, psychiatrischer, psychotherapeutischer und pflegerischer Berufe eingehen.

In der Vorrede zu ihrem Bericht »Eichmann in Jerusalem« fordert Hannah Arendt, »dass Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil«. Sie fordert vom Individuum, sich seiner moralischen Urteilskraft zu bedienen. Das ist ihre Erwartung an ihre Mitmenschen, ihre Erwartung an uns. Wenn derzeit die Grenzen des Sagbaren verschoben, wenn der Nationalsozialismus als »Vogelschiss der Geschichte« bagatellisiert und die Aufarbeitung der Menschheitsverbrechen als »Schuldkult« verunglimpft werden, wenn Menschen mit Behinderungen herabgesetzt und ausgegrenzt werden, dann ist das ernst zu nehmen. Von Primo Levi stammt der Satz: »Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.« Das müssen wir für alle Zeiten verhindern.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2025.