Welche Akzente setzt die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth? Wie »grün« wird die deutsche Kulturpolitik jetzt? Hans Jessen fragt bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien nach.

Hans Jessen: Frau Roth, direkt vor Ihrer Ernennung zur Kulturstaatsministerin haben Sie das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma besucht. Was sagt diese Geste über Ihre Auffassung des Amtes aus?

Claudia Roth: Mir ist wichtig, zwei Bereiche zusammenzubringen: Demokratie und Kultur. Während der letzten Jahre haben wir erlebt, dass unsere Demokratie nicht immun ist. Sie wird angegriffen: auf Straßen und auf Plätzen, in den sozialen Medien und auch im Bundestag durch die AfD. Wir dürfen nie vergessen, dass Demokratie nichts Selbstverständliches ist – sie muss jeden Tag gestärkt und verteidigt werden. Genau dafür brauchen wir die Erinnerungskultur.

Weil dieses Thema für mich als Kulturstaatsministerin sehr wichtig ist, habe ich zum Einstieg in mein neues Amt das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma besucht. Dieses Denkmal des israelischen Künstlers Dani Karavan im Herzen Berlins ist ein sehr wichtiger Ort unserer Erinnerungskultur, weil hier einer Opfergruppe gedacht wird, die die Nazis auslöschen wollten. Der Besuch zu Beginn meiner Amtszeit bedeutet: Erinnerungskultur ist immer auch Erinnern in die Zukunft. Zugleich wollte ich damit zeigen, dass Demokratie und Kultur zwei Seiten einer Medaille sind.

Der Tag ging dann noch weiter: Am Abend nach der Ernennung habe ich im Gorki-Theater eine Ausstellung über die Verbrechen des NSU besucht, in der Arbeiten aus Migrationsperspektive gezeigt wurden. Ein Plakat war zu sehen, auf dem »Kein Schlussstrich!« stand. In diesem Moment ist bei mir etwas passiert: »Schlussstrich« – diesen Ausdruck hatte ich vorher immer mit Gaulands AfD-Perspektive auf die Nazi-Verbrechen verbunden. In diesem anderen Kontext bekam der Ausdruck aber dann eine ganz neue Bedeutung. Durch die Ausstellung ist mir deutlich geworden, dass es immer noch viele offene Wunden in unserer Gesellschaft gibt. »Kein Schlussstrich!« kann somit als Motto einer neuen Erinnerungskultur verstanden werden. Dazu gehören die Auseinandersetzung mit dem NS-Terror genauso wie die Dekolonialisierung unseres Denkens – und gerade auch die offenen Wunden unserer Einwanderungsgesellschaft. Erst gestern Abend war ich in Mölln, wo vor 30 Jahren durch einen Brandanschlag von Neonazis drei Türkinnen ermordet wurden. Die Angehörigen dieser Frauen sagten mir: »Wir als Opfer kommen im nationalen Gedenken nicht vor.« Das hat mich tief bewegt. Deshalb sage ich: Wir brauchen auch eine Erinnerungskultur in die Einwanderungsgesellschaft und aus der Einwanderungsgesellschaft hinaus.

Erinnerungskultur galt doch aber für alle, die dieses Amt bisher innehatten als wichtige Aufgabe …

Ja, aber dazu gehören auch Mölln, Hanau und Halle – und der konsequente Umgang mit dem Kolonialismus. Die Rückgabe der Benin-Bronzen ist wichtig, aber in der breiten gesellschaftlichen Debatte spielt die Frage des kolonialen Unrechts bislang keine große Rolle. Die Tendenz war eher zu sagen: »Das ist eine Aufgabe für Belgien, Frankreich, Spanien und Portugal. Und mit Namibia ist von unserer Seite aus doch alles geregelt.« Ich sage aber: Mitnichten ist alles geregelt, und in der gesellschaftlichen Breite haben wir noch nicht einmal angefangen, uns richtig mit unserer kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich mache nichts in Abgrenzung zu meinen Vorgängerinnen und Vorgängern, aber ich will bei den Themen Erinnerungskultur und Kolonialismus eine sehr viel breitere Perspektive haben.

Rückgaben sind in diesem Zusammenhang ein wichtiger Schritt, aber wir müssen mit den Herkunftsgesellschaften viel mehr in den Dialog kommen. Ich weiß aus Nigeria, dass dort gefordert wird, die Kunstwerke hier in Deutschland weiter auszustellen, um uns mit der Bedeutung dieser Kunst zu konfrontieren. Darüber hinaus müssen wir grundsätzlich zu einer Kooperation auf Augenhöhe mit afrikanischen Museen kommen. Auf europäischer Ebene passiert da gerade etwas, das ist auch eine Aufgabe für uns.

Als zweiten Schwerpunkt nannten Sie »die Gesellschaft der Vielen« – was bedeutet das konkret für die Amtsführung? Ist das ein anderes Wort für »Multikulti«, von konservativen Kräften oft genug als gescheitertes Konzept bezeichnet?

Multikulti ist nicht gescheitert. Das behaupten nur diejenigen, deren Blickrichtung auf die Gesellschaft nichts mit der Realität zu tun hat. Multikulti ist nicht out, sondern mega in – auch wenn wir jetzt nicht mehr »Multikulti« sagen, sondern »Gesellschaft der Vielen«. Damit sind alle Heimaten gemeint, die unsere Gesellschaft ausmachen. In Literatur, Malerei und Musik sind dadurch viele neue Stimmen, Farben und Klänge entstanden. Aber das Bewusstsein, dass all diese Kulturen zu unserer Gesellschaft essenziell dazugehören, ist noch zu wenig ausgeprägt. Vieles findet in Nischen oder Silos statt, wie z. B. im Rap.

Beim Thema Diversität geht es auch um die Frage, wie Institutionen und Gremien zusammengesetzt sind. Bei den vielen Jurys im Kulturbereich muss man z. B. fragen: Wie kommt dort die Realität unserer vielfältigen Gesellschaft zum Ausdruck? Frauen, Equal Pay, Diversity – wo finden wir das? In einem sehr guten Teil des Koalitionsvertrags dieser Regierung geht es darum, die Realität unserer Einwanderungsgesellschaft endlich auch demokratisch zu gestalten. Das gilt natürlich auch für die Kultur.

Zur »Gesellschaft der Vielen« in der Kultur gehören auf der institutionellen Ebene Plattenläden genauso wie Poetry Slams, die Philharmonie genauso wie der Club – das alles ist Kultur. Ich habe auch schon die Frage nach E- oder U-Kultur gehört: »Frau Roth, Sie setzen sich doch bestimmt für die U-Kultur ein.« Und dabei gab es immer diesen Unterton, dass ich von »wirklicher« Kultur wenig verstehen würde. Das ist Unsinn. Mein Interesse gilt der Kultur in all ihrer ­Vielfalt.

Schließlich wollen Sie Kultur im Kampf gegen die Klimakrise mobilisieren – was heißt das konkret? Emissionseinsparziele für Kultureinrichtungen oder politische Statements?

Es geht wieder um Form und Inhalt. Diese Bundesregierung will eine Klimaregierung sein, das betrifft jedes Ressort – auch die Kultur. Viele Einrichtungen treibt das Thema Klimaschutz schon jetzt um. Es gibt zahlreiche Museen, Theater, Konzerthäuser, die aktiv werden wollen und sich z. B. die Frage stellen, wie sie ihren Energieverbrauch senken können. Sie bitten um technische Hilfe bei der Umsetzung. Deshalb arbeiten wir z. B. mit dem Umweltbundesamt zusammen, um die Infrastruktur von Kultureinrichtungen in ökologischer Hinsicht zu verbessern. In diesem Zusammenhang gab es auf der Baustelle des neuen Museums der Moderne am Kulturforum ein spannendes Gespräch über ressourceneffiziente und energiesparende Lösungen für dieses Gebäude. Ganz klar ist für mich: Man kann heute keinen Museumsneubau mehr ohne Nachhaltigkeitskriterien machen.

Ich weiß auch von Konzertveranstaltern, die intensiv daran arbeiten, den hohen Energieverbrauch von großen Konzerten zu reduzieren. Die Veranstaltungswirtschaft ist sehr daran interessiert, und das nicht nur aus Klimaschutzgründen – sondern auch um Kosten zu sparen.

Stolz bin ich darauf, dass es im Filmbereich gelungen ist, Klimaschutz und Nachhaltigkeit voranzutreiben. Gemeinsam mit den Filmförderungen der Länder, der FFA und dem Arbeitskreis Green Shooting haben wir beschlossen, einheitliche ökologische Mindeststandards zu schaffen. Diese sollen ab dem 1. Januar 2023 dann verpflichtend gelten – in der Filmförderung und bei allen Akteuren, die Teil des Arbeitskreises Green Shooting sind, also z. B. bei Medienunternehmen, Plattformen und Sendern. Darüber hinaus wird ein »Green Culture Desk« ins Leben gerufen, also eine Anlaufstelle zur besseren Vernetzung. Und wir werden bei der BKM ein eigenes Referat für das Thema »Kultur und Nachhaltigkeit« etablieren, das gab es bislang nicht.

Sie haben kulturpolitische »Großbaustellen« sozusagen geerbt, eine ist das Humboldt Forum. Haben Sie einen Plan zur Ausgestaltung?

Der Plan lautet erst mal: Mit ganz vielen Menschen reden, die in diesem Zusammenhang jetzt schon eine wichtige Rolle spielen oder eine solche Rolle spielen können. Die Ausgangsfrage ist: »Wie schaffen wir es, dass das Humboldt Forum ein weltoffenes Forum wird und nicht ein Forum, das für Dominanzkultur steht?« Ich sage das so direkt, weil das Konzept des Humboldt Forums für mich noch nicht schlüssig ist. Mit der Inschrift und dem Kreuz auf der Kuppel fällt es mir sehr schwer, das Humboldt Forum als »weltoffen« zu sehen.

Sollten Kreuz und Inschrift entfernt werden?

Ich hätte beides nicht gemacht. Jetzt sind Kreuz und Inschrift da, wir müssen also entscheiden, wie wir damit umgehen und in welchen Zusammenhang wir beides stellen. Im Humboldt Forum sollen die Benin-Bronzen ausgestellt werden. Auch da stellt sich die Frage, in welchem Kontext sie gezeigt werden sollen. Ich glaube, das wird der Gradmesser sein, wie ernst es uns mit der Weltoffenheit ist. Wenn das Humboldt Forum das große, weltoffene Forum werden soll, dann gibt es noch großen Reformbedarf.

Zweite geerbte »Großbaustelle« ist die Stiftung Preußischer Kultur­besitz (SPK) …

Ich glaube, das Potenzial der SPK ist gigantisch. Die Museen müssten eigentlich weltweit in der allerersten Liga spielen. Im Hinblick auf Attraktivität kann es die Neue Nationalgalerie zweifellos mit einem Museum wie der »Tate« in London aufnehmen. Doch aktuell nutzt die SPK ihr Potenzial nicht voll aus. Wenn man bedenkt, was alles zur SPK gehört, dann leuchtet mir nicht ein, warum dieser große Schatz teilweise vor sich hin ruht. Deshalb läuft da ein intensiver Reformprozess. Ich möchte jetzt zuallererst einmal alle Museumsleute an einen Tisch holen. Trotz Corona und Ukraine soll das jetzt bald passieren. Die grundsätzliche entscheidende Frage lautet doch: Wo ist der Gesamtzusammenhang? Eine Reform, in der es um Strukturen geht – schön und gut, man braucht Strukturen. Aber was ist das Verbindende? Welche Funktion hat ein Museum heute? Es geht ja nicht nur darum, Gegenstände zu verwahren. Wie sieht die Vermittlung in die Gesellschaft aus, gerade im Hinblick auf die großen globalen Herausforderungen?

Bei der SPK müssen wir die Einbindung der Länder dringend überdenken. Die machen sich schon ihre Gedanken, was sie von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz haben könnten, was also der Mehrwert für sie ist. Ehrlich gesagt, fängt das ja schon beim Namen an. Wenn du in Bayern »Preußischer Kulturbesitz« sagst, dann gehen die eher in ein anderes Museum. Ich habe gerade gelernt, dass die finanzielle Beteiligung der Länder an der Stiftung nicht nach dem Königsteiner Schlüssel geregelt ist, sondern nach einer historisch abgeleiteten »Preußennähe«. Das heißt, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein zahlen wesentlich mehr ein als Bayern, das demnach weniger Preußenbezug hat. Das arme Schleswig-Holstein zahlt mehr als das reiche Bayern – da muss man doch ran, nicht nur wegen finanzieller Beteiligung. Auch hier gilt: Wir sollten uns in die Zukunft erinnern und einen Neustart beginnen.

Seit zwei Jahren leidet die Kulturszene ganz besonders unter der Pandemie, jetzt werden Restrik­tionen zurückgenommen – entfällt damit auch der Pandemiefolgen-Bekämpfungsmodus, in dem sich Ihr Ressort zwei Jahre lang befand?

Die Pandemie ist leider noch nicht vorbei. Wir wissen nicht, was im Herbst und Winter passieren wird. Wir müssen daher weiter überlegen: Wie können wir die kulturelle Infrastruktur schützen? Was ist gut gelaufen in den letzten zwei Jahren? NEUSTART KULTUR funktioniert jedenfalls sehr gut: 74 Einzelprogramme, die zielgenau unterstützen. Wir haben Sonderfonds, Überbrückungsmaßnahmen und Ausfallregelungen. Bei allem Schrecken und allen Lasten für den Kulturbereich – ich denke, das Schlimmste konnte verhindert werden.

Unabhängig von Corona habe ich mir aber vorgenommen, zusammen mit den Bundesländern sehr ernsthaft an die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler heranzugehen. Wir prüfen deshalb eine weitere eigenständige Säule sozialer Absicherung für Künstlerinnen und Künstler, die deren eigenständige Lebensrealität anerkennt. Neben der sozialen Absicherung der Künstlerinnen und Künstler wollen wir eine Art Mindestlohn für Gagen und Honorare bei Förderungen des Bundes. Auch auf Länderseite wird gerade eine Matrix hergestellt, wie das aussehen kann.

Ich glaube, wir haben aus der schlimmen Pandemie heraus ein anderes Verständnis für solche Vorhaben. Wir haben durch Corona alle erfahren, wie wichtig Kunst und Kultur für unsere Demokratie sind. Was verlieren wir, wenn es keine Theateraufführungen oder Konzerte mehr gibt, wenn die Museen zu sind? Wenn das alles wegbricht, dann hat die Demokratie keine Stimme mehr.

Wie sollen die Kulturszene und die Kulturpolitik auf Putins Krieg gegen die Ukraine reagieren?

Am Tag nach dem Kriegsbeginn habe ich ukrainische und russische Künstlerinnen und Künstler ins Kanzleramt eingeladen. Dieses Treffen hat mich sehr bewegt. In unseren TV-Sendungen wird ja manchmal die Frage diskutiert, ob Putin nicht vielleicht doch recht hat, wenn er die Ukraine dem großen russischen Reich zuordnet. Diese Frage haben die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler im Kanzleramt sehr eindeutig beantwortet: »Nein, wir haben unsere Sprache, unsere Literatur, unsere Kultur – gebt uns eine Stimme.«

Im Anschluss an diesen Termin haben wir erstens alle deutschen Kultureinrichtungen dazu aufgerufen, der ukrainischen Kultur eine Stimme zu geben. Zweitens entwickeln wir ein Soforthilfeprogramm, um Flüchtenden aus der Ukraine, aber auch aus Russland und Belarus die Möglichkeit zu geben, weiter journalistisch oder künstlerisch zu arbeiten und sich zu äußern. Aus dem Haushalt der BKM stehen eine Million Euro zur Verfügung, damit wollen wir gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt Journalistinnen und Journalisten sowie Künstlerinnen und Künstler unterstützen. Um ein Hilfsprogramm möglichst rasch auf den Weg zu bringen, sind wir hierzu mit verschiedenen Partnern im engen Austausch. Drittens haben wir eine Taskforce eingerichtet, weil ganz viele Akteurinnen und Akteure sowie Kultureinrichtungen sich jetzt melden und etwas tun wollen. Und wir beraten weiter im Haus, was wir tun können und welche Unterstützung von uns aus möglich ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal ganz klar sagen: Es darf keinen Boykott russischer Kultur geben! Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass sich die Stadt München von Waleri Gergijew getrennt hat. Er ist ein herausragender Dirigent, aber er hat schon 2016 in Damaskus Konzerte zu Ehren von Baschar al-Assad gegeben. Er steht eben auch politisch für Putin, und er hat seine Musik klar in dessen Dienste gestellt. München ist Partnerstadt Kiews. Dass sie Gergijew nicht weiter beschäftigen wollen, finde ich richtig.

Allerdings darf es keinen Generalverdacht gegen russische Künstlerinnen und Künstler geben. Wenn russische Tanzensembles oder Chöre ausgeladen werden, wenn sogar in Buchhandlungen russische Werke aus den Regalen verschwinden, dann ist das eine gefährliche Reaktion. Russische Künstlerinnen und Künstler, von denen viele jetzt selbst unter dem Putin-­Regime leiden, auch weil sie ihre Stimme dagegen erheben, sind gerade in dieser Situation unentbehrlich als Brückenbauer und Botschafter eines anderen Russlands.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.