Unter dem Titel »Schlossaneignung« hat sich eine Gruppe um den Berliner Architekten und Hochschullehrer Philipp Oswalt zu einer baukulturellen Bürgerinitiative zusammengeschlossen. Ziel der 30 Aktivisten ist es, dem Fassadenschmuck am Berliner Humboldtforum eine breitere Aufmerksamkeit zu geben. Die historische Rekonstruktion orientiert sich an der Fassade, wie sie sich 1918 zum Ende des Kaiserreichs präsentierte: in preußischer Tradition der Hohenzollern und des Deutschen Kaiserreichs, das zu jener Zeit nicht nur in Europa eine bis dato unbekannte Kriegsverwüstung verantwortete, sondern auch Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien unterhielt. Der wiederaufgebaute Prachtbau bildet heute genau diese Zeit ab. Dagegen protestieren Oswalt und seine Mitstreitenden und haben einen künstlerischen Ideenwettbewerb ausgelobt. Sie wollen das Humboldtforum um baukünstlerische Interventionen bereichern, die auch die deutsche Geschichte mit all ihren Brüchen und ihren Vorbildfunktionen nach dem Ende des Kaiserreichs thematisieren. Bis zum 15. September kann jeder seine Ideen online einreichen. Am 10. Oktober stellen 20 von einer Jury ausgewählte Teilnehmer ihre Arbeiten in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin-Kreuzberg öffentlich vor.
Mit der Aktion kommt Oswalt, der sich immer als ein Gegner der barocken Rekonstruktion verstanden hat, keineswegs zu spät. Denn am wiederaufgebauten Stadtschloss sind auch drei Jahre nach seiner Fertigstellung unter Leitung des italienischen Architekten Franco Stella große Teile der Fassade bislang ohne Dekoration geblieben. Schrittweise ergänzt die Stiftung Preußischer Kulturbesitz als Bauherrin die Fehlstellen, finanziert durch private Spenden. Ein Großteil der Spender ist dadurch zum Paten einzelner Bauteile geworden. Einerseits ist dies als Zeichen eines privaten Engagements von Bürgern zu verstehen, andererseits wirft die politische Ausrichtung einzelner Spender Fragen nach deren verfassungskonformer Einstellung auf. »Von einer Reihe von Spendern, die die Fassadenrekonstruktion finanzierten, ist bekannt, dass sie rechtslastige, antisemitische und auch rechtsradikale Positionen vertraten. Ein noch größerer Teil der Spenden erfolgte zudem anonym, ihre Herkunft ist unbekannt und entzieht sich damit einer Prüfbarkeit«, formuliert die Aktivistengruppe auf ihrer Website.
Schauplatz der Geschichte
Der Berliner Schlossplatz ist auch nach dem Ende der Hohenzollernherrschaft und bis heute Schauplatz der deutschen Geschichte geblieben. Karl Liebknecht rief auf dem Balkon des Portals V am 9. November 1918 die »freie sozialistische Republik Deutschland« aus. In den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs erlitt das Schloss starke Beschädigungen, sodass die DDR-Führung im Winter 1950/1951 die durchaus sanierungsfähige Ruine politisch wirkungsvoll sprengen ließ – als endgültige Abkehr von der imperialistischen Vergangenheit seit Gründung des Deutschen Reichs und der preußischen Zeit davor. Wie für Berlin an vielen Orten typisch hatten neue Generationen das Erbe ihrer Vorfahren aus dem Stadtgrundriss ausradiert. Der einstige Schloßplatz hieß längst Marx-Engels-Forum. Die SED-Diktatur hatte die 500-jährige Schlossgeschichte getilgt und ein sozialistisches Urban Entertainment Center errichtet, in dem zwei Mal jährlich auch das DDR-Parlament tagte.
Zivilgesellschaftliches Engagement
Der Ort deutsch-deutscher Geschichte ist seit dem Fall der Mauer aber auch zu einem Denkmal zivilgesellschaftlichen Engagements geworden. Als die Bundesrepublik als neue Eigentümerin den Palast der Republik aufgrund von Asbestfunden schloss und entkernte, ahnten nicht nur DDR-Nostalgiker den baldigen Abriss. Schon 1993 hatte der Hamburger Kaufmann Wilhelm von Boddien im Rahmen einer privaten Initiative eine Schlossattrappe errichtet, um den Berlinern die Dimensionen des verschwundenen Gebäudes vor Augen zu halten. Freilich verband er seine Aktion mit der Forderung, den Preußenbau zu rekonstruieren. Schnell bildeten sich zwei Lager: die Schlossbefürworter und die Schlossgegner. Zu letzteren gehörte damals schon Philipp Oswalt. Seine Initiative zum Erhalt des Palasts der Republik blieb vor allem in Erinnerung durch den 2005 installierten Schriftzug »Zweifel«, eine Arbeit des norwegischen Künstlers Lars Ramberg.
Als Sieger im intellektuellen Schlagabtausch über die Zukunft des Schloßplatzes setzte sich von Boddien durch. Mit seiner Begeisterung für die Rekonstruktion hatte er sogar die Mehrheit im Deutschen Bundestag dazu bewegt, erstmals in der Geschichte des bundesdeutschen Parlaments eine Gestaltungsentscheidung zu treffen: für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und seiner barocken Fassaden. Der Architekturwettbewerb war 2009 der vorläufige Höhepunkt in von Boddiens Bestreben, als engagierter Bürger ein neues Symbol für das wiedervereinigte Deutschland zu schaffen. Doch gestalterisch blieb eine Frage bislang unberücksichtigt: Wie bildet der Ort die deutsche Geschichte der vergangenen 100 Jahre ab?
Lediglich zwischen der Kuppel und dem Spreekanal wird eine Installation entstehen, die den Ort weltweit in den sozialen Medien bekannt machen wird: die 2011 aus einem Wettbewerb hervorgegangene Einheitswippe des Stuttgarter Büros Milla und Partner. Das überdimensionierte Spielgerät wartet seit Jahren auf seine Fertigstellung. Die kürzliche Insolvenz der Baufirma und die daher erforderliche Neuvergabe des Auftrags werden die Eröffnung wohl erst in 2026 möglich machen.
Mit Philipp Oswalts aktueller Initiative für eine Ergänzung der Schlossfassade mit künstlerischen Akzenten, die die deutsche Geschichte seit 1918 widerspiegeln, findet das zivilgesellschaftliche Engagement am Berliner Schloßplatz noch lange kein Ende. Immerhin hat die private Auslobung eines Wettbewerbs für die Umgestaltung eines öffentlichen Gebäudes im Herzen der Hauptstadt schon eine wichtige Säule der Demokratie gefestigt. Es geht um nicht weniger als den Erhalt der künstlerischen Freiheit, die ergebnisoffene Debatte über Bauten gesamtdeutschen Interesses und um eine Versöhnung von Tradition und Avantgarde.