Lieber Wolfgang, der du dir die Mühe mit der Laudatio gemacht hast. Sie hat mich sehr berührt und gefreut. Sie war mir ein großes Vergnügen – und sie hat mich auch ein wenig beschämt. Wir haben ja beide als Kulturpolitiker mehr auf pragmatische Lösungen geschaut als auf parteipolitische Kampflinien. Und in der katholischen Orientierung sind wir uns beide nahe, bis hinein ins gemeinsame Engagement im Zentralkomitee der deutschen Katholiken.
Der große Schauspieler Götz George hat in einem Interview gesagt: »Alles in einem Leben wird irgendwann einmal abgehakt. Man muss es nur genossen haben. Und man muss in der Zeit glücklich gewesen sein, ob es nun ein großer oder ein kleiner Erfolg war.«
In diesem Sinne habe ich mein bisheriges berufliches und politisches Wirken tatsächlich genossen – und trotz vieler Opfer, die auf dem Weg immer wieder gebracht werden müssen, bin ich meistens wirklich glücklich gewesen. Schließlich ist es ein wunderbares Privileg, als leidenschaftliche Kulturliebhaberin das höchste Amt in der Kulturpolitik Deutschlands anvertraut zu bekommen.
Ich habe versucht, dieser Aufgabe gerecht zu werden:
- durch Respekt vor der Fantasie und dem Können der Künstlerinnen und Künstler
- durch Respekt vor der Autonomie der Kultureinrichtungen
- durch Respekt vor der Verantwortung, die ein solches öffentlich sichtbares Amt mit sich bringt.
Aber eine gute Leistung vollbringt man ja nie allein. Mir war gerade der Deutsche Kulturrat nicht nur immer ein wichtiger Ratgeber, sondern vielmehr auch ein echter Partner. Lassen Sie mich diese Partnerschaft Anlass sein für einen kleinen kulturpolitischen Impuls – über Werte, über Herausforderungen und ihre Lehren daraus und für einen Ausblick auf die Resilienz unserer Kultur. Einige Herausforderungen haben wir nämlich gemeinsam gemeistert und dabei auf der Basis ähnlicher Überzeugungen und Werte gehandelt
Wir sind überzeugt davon, dass zum kulturellen Leben eines Landes nicht allein das kulturelle Erbe gehört, sondern vor allem das Neue, die Avantgarde. Damit diese möglich wird, schützt und fördert der Staat die Freiheit von Kultur und Wissenschaft. Im Artikel 5 des Grundgesetztes heißt es: »Kunst und Wissenschaft sind frei.«
Hier drückt sich eine Lehre aus den Abgründen der Diktatur aus, die Überzeugung nämlich, dass es die Kreativen sind, die Vordenker, die Geistesgrößen einer Gesellschaft, die diese vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen im Stande sind. Dies aber können sie nur, wenn der Staat sie unabhängig macht von Zeitgeist und Geldgebern und ihnen Freiraum zur Entfaltung sichert. Unser Staat tut dies auch, zwar mit nur rund 1,8 Prozent aller öffentlichen Haushalte, aber doch mit nachhaltiger Wirkung: Deutschland, das Land der Dichter und Denker, ist nach wie vor das Land mit der höchsten Theaterdichte der Welt, und das gilt ganz genauso für Museen, Orchester, Literaturhäuser, Archive, Bibliotheken und Festivals.
Respekt vor der Autonomie der Kultureinrichtungen
Damit dies so bleibt, damit die Kultur und die Künste sich in Freiheit als kritisches Korrektiv in unserer demokratischen Gesellschaft behaupten können, muss sich der Staat in einer dienenden Haltung auf die Formulierung günstiger Rahmenbedingungen, vor allem in rechtlicher und auch in finanzieller Hinsicht, beschränken. Einflussnahme auf ästhetische Prozesse, Erwartungen an ein bestimmtes Programm der Institution oder gar die Vorgabe eines Kanons verbieten sich.
Denn eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die den Anspruch religiöser Wahrheiten respektierte, die das überall lauernde Risiko verletzter Gefühle scheute, die gar einer Partei, einer Regierung, die einer bestimmten Moral oder Weltanschauung diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben.
Was hieß und heißt das konkret?
Zu den größten Herausforderungen, die ich als BKM und die wir – zusammen mit dem Kulturrat z. B. – vor dem Hintergrund dieser Überzeugungen und Grundsätze – meistern mussten und müssen, gehörte die Corona-Krise: In einem beispiellosen Kraftakt ist es gelungen, zweimal eine Milliarde für ein eigenes Hilfsprogramm NEUSTART KULTUR im Kabinett durchzusetzen und damit vor allem die existentiellen Nöte der soloselbständigen, freischaffenden Kreativen sichtbar zu machen und zu lindern.
Eher im Hintergrund geblieben ist das, was weit über die Corona-Hilfen hinweg gewirkt hat und m. E. unbedingt bleiben sollte: die systematische Zusammenarbeit der BKM, der Regierung, mit der Zivilgesellschaft.
Es war gerade mit Hilfe des Deutschen Kulturrats möglich, die zügige Verteilung der Milliarde an die hilfsbedürftigen Künstlerinnen und Künstler zu organisieren, indem wir gemeinsam Verbände und Organisationen der jeweiligen Kunstsparten mit einem Vertrauensvorschuss versehen und beauftragt haben, die Verteilung an »ihre« Kreativen zu übernehmen. Dieses Stilprinzip war ein maßgeblicher Erfolgsfaktor im Programm; es ist uns allen gut bekommen.
Mein großer Wunsch, meine Empfehlung ist es, diese Zusammenarbeit zwischen Regierung und Zivilgesellschaft auch systematisch fortzusetzen.
Was uns neben konkreten Aktionen ebenfalls verbindet, sind manche Sorgen in Bezug auf die Entwicklung und die Zukunft der Kultur und der Künste. Da ist vor allem das Erschrecken vor dem hemmungslosen Antisemitismus, der sich gerade auch im Kulturbetrieb Bahn bricht. Wir fragen uns ja ohnehin immer wieder: »Warum werden ausgerechnet Juden so gehasst?«
»Etwas zu erklären, das in sich irrational, wahnhaft und absurd ist, ist unglaublich schwer, wenn nicht gar unmöglich«, befindet die amerikanische Holocaustforscherin Deborah Lipstadt, die darin den Wesenskern aller Verschwörungsmythen und damit auch des Antisemitismus sieht.
Das Irrationale, das Wahnhafte, das Absurde am allgegenwärtigen und jahrtausendealten Antisemitismus ist vielleicht auch einer der Gründe für die Hilflosigkeit im Umgang damit, die wir auch hier immer wieder beobachten. Hilflos sind wir erst recht dann, wenn er uns aus Milieus entgegenschlägt, die wir für zu klug, zu reflektiert, zu tolerant für derartige Ausfälle und Übergriffe gehalten haben – aus Kultur, aus Hochschulen und Wissenschaft.
Für dieses Spannungsfeld und für die gesamtgesellschaftliche Balance zwischen Meinungsfreiheit, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit einerseits und der klaren Antwort auf Spaltung, Hass, Hetze, Rassismus und Antisemitismus andererseits, ist die Kultur- und Wissenschaftspolitik, sind aber auch wir alle hier zuständig.
Ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Baustein ist das Programm »Alles andere als normal. Jüdisches Leben in Deutschland«, das wir seitens der BKM 2021 über den Kulturrat in Zusammenarbeit mit dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung entwickelt haben; es sollte jenseits der Fokussierung auf die Nazizeit und die Shoah vor allem jüdisches Alltagsleben heute sichtbar machen. Ein Fotowettbewerb, dann mit »L’Chaim« der Auftrag »Schreib zum Jüdischen Leben in Deutschland!« und ein Poetry-Slam-Wettbewerb, der ganz unterschiedliche Facetten jüdischen Lebens auf die Bühne brachte – all diese Ereignisse und ihre jeweiligen Zielgruppen können breite Teile der Gesellschaft sensibilisieren für den Reichtum jüdischen Lebens in der Mitte unserer Gesellschaft und so Neugier aufeinander und ein Verantwortungsgefühl füreinander wecken. Inzwischen gibt es mit einer Förderung der Stiftung EVZ eine kultursparten- und bereichsübergreifende Arbeitsstelle gegen Antisemitismus beim Deutschen Kulturrat.
Das kann nicht alles sein, aber einfache Lösungen für die Verwerfungen wegen des Nahost-Konflikts gibt es nicht. Statt Kultur zu boykottieren, wird hier konstruktiv um Perspektiven auf das Phänomen gerungen.
Das Programm, in dessen Kontext diese Aktivitäten zum Judentum stattfinden, ist wichtiger denn je: die Initiative kulturelle Integration. 2016 auf Anregung des BMI, des BMAS, der BKM (!),der Beauftragten der Bundesregierung für Integration und des Deutschen Kulturrats gegründet, wurden 15 Thesen zum Zusammenhalt in Vielfalt erarbeitet. Sie sind zu einem erstklassig formulierten Grundsatzpapier gegen Rassismus und Ausgrenzung geworden und – leider – aktueller denn je.
Inzwischen gehören dieser Initiative 28 Organisationen und Institutionen an, die viele verschiedene gesellschaftliche Bereiche repräsentieren. Der Kulturrat stellt die Thesen regelmäßig zur Diskussion, führt Jahrestagungen zum Thema durch, veranstaltet Wettbewerbe und trägt so wesentlich zum Verständnis im breiten Feld des Zusammenhalts in Vielfalt bei.
Ich bin überzeugt: Nur eine Gesellschaft, die Vielfalt als Gewinn begreift, hat eine Zukunft. Weniges steht hierzulande mehr dafür als die Kreativwirtschaft und die Kultur als große Brückenbauerin. Ich kann Ihnen allen hier immer mal wieder zur Lektüre der 15 Thesen raten – es lohnt sich.
Staatsziel Kultur
Und noch eine letzte Empfehlung hier und heute: Staatsziel Kultur. Wir spüren es alle: Die altbekannten, verlässlichen Leitplanken in unserer Gesellschaft werden spröde. Die Bindungen an Parteien, Kirchen, Gewerkschaften lassen nach. Innerer Halt und Orientierung müssen neu definiert werden. Das ruft Populisten und Radikale auf den Plan. Im neuen, dem 21. Deutschen Bundestag, ist die AfD stärker denn je. Und deren erklärtes Ziel ist es, die heutige deutsche Gesellschaft zu verändern. Sie spaltet durch Hass und Hetze.
Da überrascht es nicht, dass ein neuer MdB dieser in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei, Matthias Helferich, das sogenannte »freundliche Gesicht des NS« (damit kokettiert er selbst), gleich am ersten Tag seiner Mitgliedschaft im Parlament ankündigte, er werde in den Kulturausschuss gehen …!
So bitter es ist: Wer eine Gesellschaft verändern möchte, legt den Fokus natürlich nicht auf das Bruttoinlandsprodukt oder auf das Autobahnnetz, sondern der geht ans Nervengeflecht unseres Gemeinwesens, der geht an die Kultur. Das hat die AfD leider begriffen. Die Kulturtradition stiftet nationale Identität. Und eben die soll verändert werden. So wie das Bundesverfassungsgericht müssen wir daher auch unser Kulturleben resilient machen, es vor Feinden schützen – durch ein Staatsziel Kultur im Grundgesetz.
Dabei geht es um das fundamentale Selbstverständnis der Nation. Kultur ist unsere geistige Lebensgrundlage. Sie trägt maßgeblich zur Bildung nationaler Identität bei. Wir in Deutschland sollten uns dessen besonders bewusst sein, denn Deutschland war zuerst eine Kultur-, dann eine politische Nation.
Doch gerade hier setzt die AfD an, die künstlerischen Prozessen misstraut und klar definiert, welche Art Kunst und Kultur sie im Falle exekutiver Verantwortung fördern würde. Das ist gefährlich, denn schon das Ansinnen legt die Axt an die zentralen Mechanismen unserer freiheitlichen Gesellschaft. Nur in einem Klima geistiger Freiheit und Offenheit gedeihen die Selbstheilungskräfte der Demokratie gegen das Gift rechtspopulistischer Sprache, Erzählungen und Denkmuster: Widerworte, Zweifel und der zivilisierte Streit sind fundamental in einer freien Gesellschaft.
Und wir brauchen sie, die mutigen Dichter und Denker, die streitbaren Künstler, die unbequemen Kreativen – damit sie uns den Spiegel vorhalten und als kritisches Korrektiv eine Gesellschaft vor Lethargie, vor gefährlicher Bequemlichkeit und letztlich auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen bewahren.
Deshalb wäre ein Staatsziel Kultur in der Verfassung, wie es die Enquete-Kommission Kultur des Deutschen Bundestages empfohlen hat und das viele Kulturpolitiker unterschiedlicher Parteien befürworten, kein folgenloser Verfassungsschnörkel, sondern ein solches Staatsziel wäre ein klares Bekenntnis zu den Wertegrundlagen unserer Gesellschaft.
Und mit einem Staatsziel Kultur würde im Übrigen auch das kollektive Bewusstsein für den Wert der Kultur gestärkt. Denn Kultur ist ja mehr als ein wichtiger Standortfaktor. Kultur ist vor allem eins: Kultur ist Ausdruck von Humanität.
Nicht erst in der aktuellen Spardebatte und angesichts rechtsradikaler völkisch-nationaler Anwandlungen auch hierzulande bin ich daher mehr denn je eine Befürworterin eines solchen Staatsziels Kultur im Grundgesetz, wo es heißen müsste: »Der Staat schützt und fördert die Kultur.«
Nicht mehr und nicht weniger.
Angesichts der überragenden Bedeutung der Kultur für das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland sollte sich unser Staat explizit in seiner Verfassung dazu bekennen.