Ein Mann, der in Kiel eine Lesung von mir besucht hatte, kontaktierte mich im Nachgang per E-Mail. Er nahm Bezug auf meine Biografie, die der Moderator ziemlich ausführlich vorgestellt hatte: »Eigentlich wollte ich Sie gleich nach der Veranstaltung ansprechen, aber da Sie umringt waren und dann gleich verschwanden, hole ich jetzt meine Frage nach: Im Gespräch haben Sie Ihre Gewerkschaftsarbeit anklingen lassen. Überall lockern und lösen sich Mitgliederverbände auf, wozu brauchen wir eigentlich noch eine Gewerkschaft?«

Gute Frage, dachte ich beim Lesen. Gelegentlich bringt mich eine solche ins Schwitzen. Es ist unschwer zu ahnen, dass der Frager um den schleichenden, aber kontinuierlichen Massenaustritt freiwilliger Mitglieder aus Organisationen und politischen Einrichtungen weiß. Zugehörige Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Waren 1989 nach der deutschen Vereinigung noch 11,8 Millionen Menschen im Deutschen Gewerkschaftsbund organisiert, waren es Ende 2003 nur noch 7,4 Millionen und jetzt, zwei Jahrzehnte später, wird von 6 Millionen gesprochen, das sind 18,5 Prozent der Bevölkerung. Politische Parteien spüren ebenso den Mitgliederschwund.

Auch ich selbst beobachte, dass Organisationen mit ihren Kernthemen heute immer weniger imstande sind, den Lebensinteressen der Menschen eine öffentliche Antwort zu geben. Signale vermitteln den Eindruck, große Teile der Bevölkerung seien in einer Art innerer politischer Emigration. Dabei fühlt es sich an, als würde alles politisch Konnotierte angezweifelt. Demoskopische Untersuchungen warnen jedoch davor, diesen Rückbezug auf sich selbst allein mit Politikverdrossenheit zu erklären. Nun könnte ich philosophieren oder die Soziologen bemühen, wäre aber dadurch keinen Schritt weiter in der Beantwortung der Frage, warum wir noch eine Gewerkschaft brauchen.

Der vor vier Jahrhunderten verstorbene englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon fand: »Der größte Vertrauensbeweis der Menschen liegt darin, dass sie sich voneinander beraten lassen.« Bringt uns dieser Satz der Antwort ein Stück näher? Ich denke schon.

Die Kommentare in den überregionalen Zeitungen berichten neuerdings teils distanziert, teils mit Wohlwollen von einer Rückkehr in die Gewerkschaften angesichts deutschlandweiter Abstimmungen mit den Füßen. Koalitionen, die den Streik als einzig wirksames Mittel ansehen, sind nicht allen Bevölkerungsteilen sympathisch. Deshalb halten wohl manche in den Gewerkschaften die Stunde für gekommen, Menschen für Ziele zu mobilisieren, die nicht nur im engeren Sinne tarifpolitische Interessen beinhalten, sondern auf den Allgemeinzustand der Gesellschaft orientieren, auf soziale Sicherungssysteme und demokratische Strukturen. Das bedeutet, ein demokratisches Miteinander auf Augenhöhe anzustreben.

Und stellt sich die Gewerkschaft von heute der Aufgabe, darüber nachzudenken, welche Begriffswelten revitalisiert werden müssten, um gegenwärtige Krisenherde mit zukunftsträchtigen Vorschlägen anzugehen und zu bewältigen? Ich bin unsicher. Utopien finden kaum einen Platz. Entwürfe und Lebensperspektiven werden als weiche Materie abgehandelt, die man im politischen Geschäft vernachlässigen kann.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass Gewerkschaften mit bloßer Verteidigungshaltung sich wirkungsmächtig den gegenwärtigen Widersprüchen und Krisen entgegenstellen können. »Die Gewerkschaften sind, ob sie wollen oder nicht, durch veränderte gesellschaftliche Verhältnisse gezwungen, ihr Mandat in drei entscheidenden Handlungsfeldern zu erweitern, die da sind: die Erweiterung des Interessenmandats, des politischen Mandats und des kulturellen Mandats« würde ich meinem E-Mail-Schreiber antworten und ihn dann bitten, darüber nachzudenken, ob es ihm nicht wichtig wäre, dass Gewerkschaften in einem Erweiterungsprozess sich für mehr einsetzen als die Verteidigung tarifvertraglicher Verbindlichkeiten. »Um Gewerkschaft unverzichtbar erscheinen zu lassen«, werde ich hinzusetzen, »muss sie sich wohl auch in den Kampf um einen lebendigen Charakter von Kultur begeben.« Kultur ist immer ein Kommunikationsbegriff gewesen, in dem jede einzelne Lebensäußerung – wie Menschen wohnen, essen und trinken, wie die Formen des Umgangs mit Freunden und Feinden gestaltet werden, wie wir genießen, wie wir sterben – ebenso wichtig ist wie ihre gesellschaftliche Bedingung. »Deshalb müssen Gewerkschaften besonders ihr kulturelles Mandat erweitern«, fahre ich in meiner Antwort fort, »um neue öffentliche Räume zu schaffen, in denen sich Gesellschaft auf Augenhöhe begegnen kann, Räume des Nachdenkens, Räume neuer Erlebniswelten, Räume gesamtgesellschaftlicher Utopien. In diesem Zusammenhang kann den Gewerkschaften zukünftig eine große gesellschaftspolitische Verpflichtung erwachsen.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.