Im Januar 1999 reise ich erstmalig von Leipzig nach Kamenz, dem Lessing’schen Geburtsort. Anstoß ist der Lessing-Preis, der dort an Eduard Goldstücker verliehen wird. Wer ist Goldstücker?

Germanist, Publizist, Literaturhistoriker; Sohn einer nordslowakischen, jüdischen Familie. Dieser Eduard Goldstücker hat ein besonderes Verhältnis zu Lessing. Beeindruckt sieht er 1934 im legendären Prager Neuen Deutschen Theater die Inszenierung von »Nathan der Weise«. Sie ist eine der Wegmarkierungen für Goldstücker.

1939 emigriert er vor den Nationalsozialisten nach England und hat die Möglichkeit, in Oxfort postgradual zu studieren. Nach dem Krieg kehrt er in die Tschechoslowakei zurück, ist ab 1950 als Botschafter in Israel tätig, wird ein Jahr später zurückgerufen und in einem Schauprozess wegen angeblichen Hochverrats, Spionage und Verschwörung zu lebenslanger Haft verurteilt; vier Jahre später die Rehabilitierung.

Seinen Namen höre ich das erste Mal 1963 und erfahre, dass er der Organisator und Spiritus Rector der im Mai stattfindenden Kafka-Konferenz in Liblice ist. Sie wird später als Vorbereitung des »Prager Frühlings« gesehen. Im Ostblock ist die Konferenz eine Sensation, denn in der DDR und der Sowjetunion beispielsweise ist Kafkas Werk lange Zeit verfemt und nur einem kleineren Kreis von Literaten bekannt.

Ich fahre nach Kamenz, um Goldstücker persönlich zu erleben.

Der Theater- und Opernregisseur Adolf Dresen eröffnet mit einem Paukenschlag die Laudatio auf den Lessing-Preisträger: »Es sind zwei herbe, miteinander verflochtene Schicksale, nicht frei von Tragik, von denen die Rede sein wird: das des Kommunisten Goldstücker, der von den regierenden Kommunisten verurteilt und fast hingerichtet wurde, und des Germanisten Goldstücker, der vielfach zwischen Tschechen und Deutschen vermittelte und seine Familie in Auschwitz verlor. Solche Erfahrungen brachten ihn nicht dazu zu hassen (…)« Dresen schlägt die Brücke zu Lessing und erinnert daran, dass dieser noch kurz vor seinem Tod als Antwort auf die Auseinandersetzungen seiner Zeit ein Schauspiel auf die Bühne bringt, dessen Handlungsort Jerusalem ist, »der Stadt des Hasses und des Friedens zugleich«. Christen, Juden und Mohammedaner, Vertreter dreier Religionen, streiten um den alleinseligmachenden Glauben. Der Jude Nathan ist es, der Versöhnung und Frieden stiftet. Es ist auch die Stimme Eduard Goldstückers, so Adolf Dresen, »die Stimme der Versöhnung, die Stimme des Friedens«, die sein Leben prägte und nicht selten zerrissen hat.

Zwei Jahre später fahre ich wieder von Leipzig nach Kamenz. Vor mir im Auto sitzt Adolf Dresen, neben mir der Leipziger Schriftsteller Horst Drescher. Beide haben in den 1950er Jahren an der Leipziger Karl-Marx-Universität Germanistik studiert und erzählen – wie so oft – vom politischen und geistigen Klima des Hörsaals 40, in dem Ernst Bloch und Hans Mayer lehrten.

Adolf Dresen wird am 20. Januar 2001 den Lessing-Preis bekommen. Laudator: der Schriftsteller Christoph Hein. Wovon wird Hein sprechen? Von Dresens Wirken in Greifswald, von einer Periode größter Produktivität am Deutschen Theater Berlin oder von seiner Leidenschaft für die philosophischen Texte Immanuel Kants? Vielleicht von seinem ungewöhnlichen Lebensweg durch beide deutschen Staaten? Nach der Biermann-Ausbürgerung geht Dresen, wie so viele damals, in den Westen, nimmt das Angebot als Regisseur am Wiener Burgtheater an. Zurück bleibt ein Vakuum. Er inszeniert in München und Basel, in Hamburg und Brüssel, in Frankfurt, Bochum, Paris, London, Antwerpen, Bologna, Düsseldorf und immer wieder in Wien. »Adolf Dresen ist ein Mann auf dem Sprung«, beginnt Christoph Hein seine Laudatio, »(…) Dresen ist die personifizierte Unruhe, ein schneller, rascher, analytischer Geist, der ungern verweilt (…). Dresen hat keine Zeit, jedenfalls keine Zeit, die er vergeuden könnte. Ein solches Leben sprüht und strahlt und regt an«. Christoph Hein spricht von einer »nicht zu stillenden Neugierde«. Sie ist es, »die Dresen umtreibt, die ihn bis heute lockt und hetzt, die ihn verführte, Berufs- und Gattungsgrenzen für sich nicht zu akzeptieren«. Auch Angst um Dresens physische Grenzen spricht wohl aus dem Gesagten. Strahlend umarmt mich Adolf Dresen, als ich ihm zum Lessing-Preis gratuliere. Fünf Monate später, am 11. Juli 2001 stirbt er, 66-jährig in Leipzig.

Am 21. Januar bekam der Leipziger Schriftsteller Andreas Reimann den Lessing-Preis 2023: Ein streitbarer Geist, ein wichtiger Lyriker, ein Aufklärer im Geiste Lessings. Herzlichen Glückwunsch, lieber Andreas Reimann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.