Der Journalist J. M. Möller behauptet in seinem Artikel zum Thema Antisemitismus in Deutschland: »Denn natürlich wurde dieser neue Antisemitismus in beträchtlichen Teilen aus der islamischen Welt importiert.« Und ergänzt: »Auch wenn einige Historiker gerade versuchen, selbst diese islamische Judenfeindlichkeit in die deutsche Geschichte einzugemeinden.«
Schauen wir auf die Fakten: Seit Jahrhunderten ist Antisemitismus in Europa präsent. Er fand seinen Höhepunkt in der Vernichtung von sechs Millionen Juden während der Nazizeit in Deutschland. In Westdeutschland begann Ende der 1960er Jahre zögerlich die Aufarbeitung der Verbrechen der Shoah, die bis heute andauert. Auf die DDR schwappten Anfang der 1950er Jahre die antisemitischen »Säuberungen« in der Sowjetunion unter Stalin über. In Schulen, Unis und Gedenkstätten fand keine Aufarbeitung der Shoah statt. Im Gegenteil: Ab 1949 unterdrückte die SED jede Berichterstattung über fortdauernden Antisemitismus. Fakt ist: Antisemitische Stereotypen, Menschenbilder und Gewalttaten waren nach 1945 nie verschwunden. Sie haben als »kollektiv geteilte Denkmuster« (A. Messerschmid) die deutsche Nachkriegsgeschichte geprägt. Von »Import« zu reden verbietet sich. Der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung sowie die Mitte-Studie der Friedrich Ebert Stiftung stellen 2023 fest, dass 21 Prozent der deutschen Bevölkerung Antisemitismus ganz oder teilweise befürworten. Offene antisemitische, rassistische Gewalt findet sich am deutlichsten in rechtsorientierten Kreisen. Formen des »sekundären« und »israelbezogenen« Antisemitismus sind sehr viel weiter bis in die Mitte der Gesellschaft hinein verbreitet: Sie äußern sich unter anderem in der Abwehr von Schuld und Verantwortung für die Verbrechen der Shoah oder wenn jüdische Menschen aufgrund der Politik des Staates Israel pauschal als Kriegstreiber etc. dämonisiert werden.
Wie ist der undifferenzierte Antisemitismusvorwurf an die muslimischen Communitys in Deutschland zu bewerten, der vermehrt seit dem 7. Oktober 2023 zu vernehmen ist? Handelt es sich um eine Form der Abwehr von Verantwortung, um sich selbst (die biodeutsche Mehrheitsgesellschaft) von Verantwortung freizusprechen?
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in den meisten muslimisch geprägten Gesellschaften Israelhass verbreitet ist. Dieser hat mehrere Wurzeln: In der Zeit, als die europäischen Kolonialmächte die arabische Welt beherrschten (19. und 20. Jahrhundert) gab es in ganz Europa massive antisemitische Strömungen. Diese wurden über die Kolonialmächte in die arabische Welt transportiert. Beispielhaft sei das »Protokoll der Weisen von Zion« genannt, das von Russland aus Anfang des 20. Jahrhunderts über andere Länder Europas in die arabische Welt gelangte. Es wurde dort von arabischen Christen übersetzt (zuerst 1926 in Jerusalem). Dieses »Protokoll« mit dem Konstrukt der jüdischen Weltverschwörung war ein Fake und trotzdem eines der wirkmächtigsten europäischen antisemitischen Pamphlete – neben einer Flut weiterer Schriften, die ausnahmslos christlichen, europäischen und amerikanischen Ursprungs waren. »Die Muslime wurden also mit dem Bild des Juden als Freimaurer, als Großkapitalist, als Kommunist, als Umstürzler und als Verschwörer vertraut gemacht.« (Schalom und Salam, Muhammad Sameer Murtaza, 2018)
Vor diesem Hintergrund wurden in den folgenden Jahrzehnten die Ereignisse der Gründung des Staates Israel und der gleichzeitigen Vertreibung der im Land ansässigen Palästinenser (Nakba) gelesen, diskutiert, interpretiert. In der deutschen Gesellschaft hat es bislang keine echte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Narrativen »Shoah« und »Nakba« gegeben. Muslime solidarisieren sich weltweit mit dem Trauma der Nakba, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft kennen nur wenige die Bedeutung des Wortes. Antisemitismus muss – wie jede Form des Rassismus – in allen Communitys bekämpft werden, aber dies kann nur gelingen, wenn alle bereit sind, sich mit der komplexen Gemengelage und den unterschiedlichen Narrativen selbstkritisch zu befassen.
Saba-Nur Cheema und Meron Mendel beschreiben in ihrem Buch »Muslimisch jüdisches Abendbrot«, wie Journalisten nach dem 7. Oktober 2023 den Antisemitismus unter Muslimen (in dieser Pauschalität) dargestellt haben und Zeichen der Solidarisierung von Muslimen mit israelischen Opfern komplett unkommentiert blieben: »Wir halten fest: Antisemitische Muslime sind offenbar interessanter als andere Muslime«. Und weiter: »Die Islam-Debatte in Deutschland ist geprägt von Angstmacherei und Polemik.«
Die Mitte-Studie stellt fest, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung keine rassistischen Einstellungen aufweist. Es ist deshalb überfällig, Antisemitismus und (antimuslimischen) Rassismus zusammenzudenken, selbstkritisch zu reflektieren und zu bekämpfen. Wir sollten dabei nicht zögern, auch wenn das unbequemer ist, als mit dem Finger auf andere zu zeigen. Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft steht auf dem Spiel.