Transformativ aus den Krisen 

Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Jede und jeder von uns spürt es: die andauernde Coronakrise, der Ukraine­Krieg, die Energiekrise, die Inflation und Wirtschaftskrise samt der anstehenden Rezession oder die Klimakrise, eine Naturkatastrophe mit Ansage und die größte Herausforderung der Gegenwart. In dieser Krisenkonstellation finden Kultur und Kulturpolitik nicht nur statt, sondern sind direkt von ihr betroffen. Bis sie an gesetzliche Grenzen stoßen, reagieren Kulturschaffende meist kreativ und flexibel auf die vielfältigen Krisenauswirkungen. Angesichts der Vielfachkrisen stellt sich uns die Frage: Welchen Beitrag kann Kulturpolitik in existenziellen sozial­ökologischen Transformationsprozessen und damit verbunden Verteilungskämpfen leisten? 

Es droht eine Vierfachverödung 

Als sozialistische Partei begreifen wir Kulturpolitik in ihrem weitesten und wahrsten Sinne als Gesellschaftspolitik. Kulturpolitik ist folglich auch Klassenpolitik. Krieg, Krise und Inflation sowie eine weiterhin auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich heizen die soziale Ungleichheit weiter an. Es droht eine vierfache Verödung in der Gesellschaft: Erstens die Verarmung der Kulturschaffenden durch wegbrechende Umsätze und gestiegene Lebenskosten. Viele von ihnen gehen in den letzten Jahren bereits alternativen Tätigkeiten nach. Zweitens droht die Verödung der Kommunen. Sie müssen auf hohe Energiepreise reagieren. Der Rotstift wird oftmals bei den freiwilligen Aufgaben und damit beim Kultursektor angesetzt. Museen, Theater, Jugendklubs, Bildungsund Sozialeinrichtungen sind vor allem davon betroffen. Zudem können zahlreiche oft kleine und frei finanzierte Einrichtungen dem Druck steigender Mieten und Energiekosten nicht mehr standhalten und schließen. Öffentliches Leben schwindet. Drittens veröden ohne Kunst und Kultur jede und jeder einzelne. Menschen brauchen den direkten Austausch, das Senden und Empfangen mit kulturellen Mitteln für ihr Wohlbefinden, aber auch Zerstreuung. Letztlich drohen viertens Gesellschaft und Zusammenleben zu veröden, wenn Prozesse und Debatten nicht mit künstlerischen oder kulturellen Mitteln erzählt und verarbeitet werden können. Kunst und Kultur sind also system­ und demokratierelevant, ebenso wie die Menschen, die darin tätig sind. Entsprechend muss es darum gehen einerseits ihre soziale Lage zu verbessern und andererseits die Stärkung der öffentlichen Finanzierung für kulturelle und künstlerische Einrichtungen zu erreichen. 

Progressive Transformationen 

Als LINKE stehen wir in unterschiedlichen Traditionen, die noch heute unsere Ansätze für eine progressive Transformation der Gesellschaft im Umgang mit Kultur prägen. So ist die Tradition der russischen Futuristen, Konstruktivisten und Suprematisten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Chance auf die maximale Freiheit und Utopie sahen, sei es im künstlerischen, wie im privaten Bereich, zu nennen. Den Weg und Moment der umwälzenden Transformation künstlerischer Formen, Ansätze und Gewissheiten brachte die Oktoberrevolution als eine im Namen des Sozialismus aufsteigende Macht, die entsprechende Ressourcen bereitstellte und international Anwerbungen unternahm. Auch wenn die Hoffnungen schnell von der Realität eingeholt und durch die Verbrechen Stalins bitterlich enttäuscht wurden, bleibt festzustellen, dass die Revolution selbst den Freiraum für künstlerisches Schaffen herbeiführte. Bezahlt haben ihn jedoch nicht zuletzt auch die Künstlerinnenund Künstler, die den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen. Ähnlich war es in der französischen Revolution, in dessen Tradition DIE LINKE ebenso steht. Hier war es der dritte Stand, der in revolutionärer Umwälzung die politische und exekutive Macht übernahm. Letztendlich war es die Kritik der Aufklärung, die Rufe nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, verbunden mit einem Kampf gegen Verarmung und Gottesgnadentum, die den Absolutismus in seiner vielschichtigen Ausprägung hinwegfegte. Nun braucht es keine Revolution, schon gar keine blutige, um die Gesellschaft in einer progressiven Transformation in die Lage zu versetzen, die nötige Grundlage für eine sehr gute Kulturpolitik zu schaffen. Aber erblickte die Idee des Sozialismus nicht das Licht der Welt, als sich in der Industrialisierung die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für breite Teile der Bevölkerung als leere Versprechung erwiesen. Es geht heute nicht mehr um die Frage, ob wir zu einem radikalen Wandel bereit sind, denn dieser findet bereits statt. Wenn wir nicht durch autoritäre Entwicklungen, Krisen, Katastrophen und materielle Not zum Wandel gezwungen werden wollen, dann muss der Wandel in den Köpfen beginnen und Menschen aktivieren, die gesellschaftliche Entwicklung selbst zu gestalten. Eine sozial­ökologische Transformation – deren Aufschub fatale Konsequenzen hat – geht Hand in Hand mit einer kulturellen Wende. Kunst und Kultur können mittels Kreativität und nachhaltiger Ressourcen auf die globalen Herausforderungen und multiplen Krisen unserer Zeit Antworten suchen und Ideen für eine bessere Zukunft schaffen. Diese Ideen müssen in die Breite getragen werden. Ob eine rein baulich und in der künstlerischen Produktion nachhaltige Kulturlandschaft ausreicht, um als Speerspitze zu fungieren, ist fraglich. Stattdessen muss auch im ökologischen Umbau des Kultursektors die soziale Frage zentral gestellt werden. Denn solange Kultur exklusiv bleibt und auf bestimmte Milieus zielt, bleibt Nachhaltigkeit in einem elitären Diskurs stecken und mit ihr die praktische sozial­ökologische Transformation. Nicht nur Verwaltungspolitik und Kulturmanagement, sondern auch die Stärkung der Zivilgesellschaft, von sozialen Bewegungen, von Freiräumen und Soziokultur muss auf der Agenda einer Kulturpolitik, die Transformationsmotor sein will, stehen. 

Sozial-inklusive Kultur 

Umso sozial­inklusiver und diverser Kultur wird, umso mehr Menschen können aus unterschiedlichen Milieus erreicht werden. Daran anschließend können Kulturinstitutionen zu mehr Mitbestimmung und gesellschaftlicher Akzeptanz beitragen und damit einer weiteren drohenden Krise entgegenwirken, nämlich einer Demokratiekrise. Verschwörungstheorien, Fake News, populistische Anfeindungen – antidemokratische Tendenzen machen sich verstärkt bemerkbar. Dies geht nicht zuletzt auf Verlustängste, wachsende Unsicherheiten und einem Gefühl der Ohnmacht zurück. Kulturräume können Individuen in den Multilog bringen, sie kooperativ zusammenführen und der Vereinzelung entgegenwirken. Sie können frei nach Walter Benjamin, Pessimums organisieren. Allen voran in der Verödung von Innenstädten sehen wir eine Riesenchance, um partizipative Räume zu etablieren, die bürgerliches Engagement fördern und für Kultur­ und Freizeiteinrichtungen, um Innenstädten ein besonderes Flair zu geben. Kultur und Medien können als kritische Begleiter und Vermittler von Werten und Identitäten Katalysator für Veränderungen sein. Nicht nur wenn sich Werke mit dem Verhältnis von Gesellschaft, Natur und Kultur auseinandersetzten, sondern auch wenn der Wille besteht, aus dem Hamsterrad aus Produktionsdruck und Ressourcenverschwendung auszusteigen und somit aus der kapitalistischen Produktionsweise. Die sozial­ökologische Frage ist glasklar eine Systemfrage. Gehen wir an diese Frage ran, wird es ungemütlich, denn wir haben mit unterschiedlichen Interessen und Verteilungskämpfen zu tun haben. Aufgrund der Energiekrise sollen öffentliche Einrichtungen bis zu 20 Prozent weniger Energie nutzen. Das kann im Winter nicht allein durch Absenken der Raumtemperaturen erreicht werden, sondern nur durch reduzierte Öffnungszeiten. Besonders für Bibliotheken wären reduzierte Öffnungszeiten fatal. Bibliotheken sind die besucherstärksten und milieu­übergreifendsten Kultureinrichtungen. In Krisen können sie Menschen Zuflucht bieten, allen voran sozialen Gruppen, die besonders unter den gestiegenen Kosten leiden. 

Eine lebenswerte Welt 

Um eine Vorstellung davon zu haben, wie die Transformation aussieht, müssen wir uns gesellschaftlich fragen: Wo soll es denn hingehen? Was ist das gute Leben? Für mich als Linker steht »Gemeinnützigkeit« und »soziale Gerechtigkeit« ganz oben auf der Agenda, damit alle ein gutes Leben führen können. Dazu gehört Teilhabegerechtigkeit, Bildungschancen und Entfaltungsmöglichkeiten – also Freiräume für jede und jeden. Freiräume, die unsere Vordenker erkämpfen mussten und um die es heute immer schlechter bestellt steht, fallen zuerst in der Kultur hinten runter. Doch gerade jetzt müssten sie geschaffen werden und Taktgeber sein. Bislang ist in der Nachhaltigkeitsdebatte die soziale Ungleichheit eher eine Randnotiz wert. Doch wachsende soziale Ungleichheit blockiert transformatorische Prozesse. Daher wäre unsere Gesellschaft gut beraten, in Kultur und kulturelle Freiräume zu investieren, wenn es um sie am schlechtesten bestimmt ist. Am Ende könnte ein Ergebnis stehen, welches nicht nur den Ausweg aus den Krisen zeigt, sondern eine Transformation hervorbringt, die gesellschaftliches Miteinander im Sinne des Menschheiterhalts in einer weiterhin lebenswerten Welt, in der nicht das Geld das Maß der Dinge ist, in den Vordergrund stellt. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.