Die jüngste Empörungskurve verlief besonders steil. Zwischen der Eröffnung der documenta in Kassel und den ersten Rücktrittsforderungen an die Verantwortlichen lagen keine paar Tage. Und der Kontrast zwischen den fahrlässig naiven Erwartungshymnen zu Beginn und der inzwischen nahezu einhelligen Verurteilung dessen, was man dort sieht, könnte krasser nicht sein. Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die, anders als ihre grüne Parteifreundin in Hessen, ein feines Gespür für wechselnde Winde und Machtverhältnisse besitzt, weiß, was jetzt auf dem Spiel steht. Die Integrität der jüdischen Welt genauso wie die ehernen Grundsätze unserer eigenen, wie überhaupt der zivilen Gedenkkultur. Aber Roth weiß natürlich auch besser als andere, dass jenes grünalternative Milieu, das sie repräsentiert, empfänglich war für jenen sich postkolonial nennenden Meinungsstrom, von dem man weiß, welches ideologische Treibgut er mit sich führt. Viele haben es befürchtet, manche haben gewarnt, nur gehandelt hat bis zuletzt keiner. Wieder einmal gibt sich die verantwortliche Führungsebene komplett überrascht. Da droht ein Konflikt und keiner geht hin.
Man wird den Grünen in diesen Umbruchszeiten attestieren müssen, dass sie den weitesten Weg von ihrer weltanschaulichen Gartenkolonie zu den heutigen politischen Realitäten zurückgelegt haben. Aber man kann an Claudia Roth und dem Wunschbild vom Postkolonialismus sehen, wie schwer der Abschied von alten Denkgewohnheiten fällt. Das traurigste Beispiel dafür erlebt man zurzeit bei der SPD. Sie quält sich mit ihrer alten Ostpolitik und würgt das Brandt’sche Erbe doch nicht herunter. Für die deutsche Sozialdemokratie geht ein großes Kapitel ihrer eigenen Geschichte zu Ende und nicht einmal die ehrliche Trauer darüber hat in dieser Partei noch Format. Es riecht, wie aus einem modrigen Kellergeschoss; dagegen hilft nicht einmal Lüften.
Der Historiker Heinrich August Winkler, selbst SPD-Mitglied, hat die SPD jüngst aufgefordert, diese Ostpolitik endlich aufzuarbeiten, wenn sie nicht ihre Regierungsfähigkeit »aufs Spiel« setzen wolle. Winkler hat die Blockaden aufgezeigt, die eine klare Antwort des Kanzlers und seiner Mehrheitsfraktion auf den Krieg Putins bis heute behindern. Man ist nach der Lektüre seines Artikels im »Spiegel« nicht nur um einiges klüger, sondern begreift auch die Gründe für das Zögern im Kanzleramt und so einige abfällige Bemerkungen wie die des Realpolitikers Helmut Schmidt, der die Ukraine weder für eine Nation hielt noch ihr eine eigene Identität zusprach. Er stand mit dieser Meinung keineswegs allein.
Vielleicht haben wir vergessen, wie sehr der Ostpolitik Willy Brandts die Anerkennung des machtpolitischen Status quo der Sowjetunion zugrunde lag und dem daraus folgenden Sicherheitsdenken des Ostblocks. An den virulenten Freiheitsbewegungen in der sowjetisch beherrschten Welt hatte man in der SPD sehr viel weniger Interesse; man hat sie mithin als störend empfunden. Als der Architekt dieser Ostpolitik, Egon Bahr, im Herbst 1981 gefragt wurde, so erinnert sich Winkler, ob die Sowjetunion denn ein Recht habe, »in Polen militärisch zu intervenieren, wenn dieses seine Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt infrage stellen sollte«, war die Antwort von Bahr lapidar: »Aber selbstverständlich.« Es war Kalter Krieg und die Politik wurde bestimmt vom Ost-West-Konflikt. Trotzdem herrschte ein politisches Grundmuster in vielen Köpfen, dass die Welt vor allem den großen Mächten gehört. Für den Freiheitswillen der Polen, der Balten oder gar der Ukrainer gab es in diesem Denken kaum einen Raum. Angesichts der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność sprach der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner im August 1981 sogar von einem gefährlichen »Ermunterungssog«. Und Günter Gaus verlieh noch wenige Wochen vor dem Mauerfall seiner großen Sorge Ausdruck, dass jetzt ein großer Teil von Europa womöglich ins Rutschen kommt. Sich trotzdem für den Freiheitswillen der Mittel- und Osteuropäer einzusetzen, roch in bestimmten Kreisen immer noch reaktionär; und über die blutigsten Kapitel in der deutsch-ukrainischen Geschichte breitete man lieber das Leichentuch aus. Winkler erinnert sich an ein Streitgespräch mit dem damaligen SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, der auf den berühmten österreichischen Staatskanzler der Restaurationszeit angesprochen »wie aus der Pistole geschossen« geantwortet haben soll: was man denn gegen Metternich haben könne?
Angesichts einer solchen Vorgeschichte ist die heutige Haltung des Bundeskanzlers gegenüber der Ukraine nicht mehr so rätselhaft, wie sie erscheint. Selbst wenn man ihm keine »hidden agenda« unterstellen möchte – so ist der Nachhall der alten sozialdemokratischen Beziehungen zur Sowjetunion offenbar stärker, als man glaubt. Der Krieg gegen die Ukraine mag die SPD überrascht haben; überraschend sind ihre Reaktionen demnach nicht. Die eigene Vergangenheit bleibt mächtig; das kollektive Gedächtnis wirkt nach. Was im Übrigen auch für den grünen Koalitionspartner gilt. Dessen Parteinahme für die Ukraine und die entschlossene Haltung zum Krieg ist keineswegs nur als pragmatische Kehre zu sehen, als bittere Einsicht in das Unvermeidliche. Das hat auch mit dem eigenen emanzipatorischen Erbe zu tun und dem Protest gegen die alte hegemoniale, heute würde man sagen: postkoloniale Welt. Kassel hätte mitten in diesem Krieg ein spannender Ort werden können, über solche Fragen zu streiten. Man hat stattdessen die eigene Erinnerungskultur einer fatalen Folklore geopfert – und sich damit entbehrlich gemacht.