Die bildende Künstlerin Siglinde Kallnbach, unter anderem bekannt durch ihr immerwährendes Projekt »a performancelife«, machte kürzlich ihre Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach vielen Jahren des Versteckens öffentlich und redet nun mit Politik & Kultur über dieses Thema und mehr.
Was treibt Sie als Künstlerin an?
Das Leben selbst.
In Ihren Performances, Kunstaktionen und Installationen setzen Sie sich immer wieder mit gesellschaftspolitischen Themen auseinander – zuletzt thematisieren Sie unter anderem das rechtsextremistisch motivierte Attentat gegen den Politiker Walter Lübcke und positionierten sich gegen Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Was motiviert Sie, sich mit diesen Themen in Ihrer Kunst auseinanderzusetzen?
Zwar hatte ich auch mal eine abstrakte Phase, aber ich gehöre zu den Künstlerinnen und Künstlern, deren Arbeit Position bezieht, sich engagiert. Walter Lübckes Tod ging mir nahe. Ich konnte mir vorstellen, was vorher an Bedrängungen und Bedrohungen gelaufen sein musste.
Gegen Faschismus bzw. Neofaschismus und Fremdenfeindlichkeit habe ich in meiner Kunst jahrelang in Ausstellungen und Performances gearbeitet. In diesem Zusammenhang wurden 1993 bei meiner Installation in der Schaufenstergalerie Kassel die Scheiben besprüht und mehrfach neu wieder eingeschlagen, Objekte gestohlen. Ich hatte mündliche und schriftliche Morddrohungen, auf dem Anrufbeantworter Sätze wie »Du wirst es noch bereuen, geboren zu sein«. Das Band des Anrufbeantworters habe ich später ungeschnitten in der Brüderkirche Kassel als Soundtrack in einer Performance abgespielt. Die beschädigte Installation in der Schaufenstergalerie beendete ich mit einer unter Polizeischutz stehenden Performance, in der ich unter anderem zusammen mit einem Rollstuhlfahrer ein Hakenkreuz zertanzte.
Allerdings wehre ich mich dagegen, wenn vorgeschrieben wird, wie Kunst zu sein hat, Kunst und Künstler benutzt werden. Kunst darf nicht als »Mittel zum Zweck« in der politischen und auch der kommerziellen Werbe- und Manipulationsindustrie missbraucht werden. Gerade heutzutage ist es wieder »in«, Kunst in teilweise neostalinistischer Manier zum reinen Transportmedium reduzieren zu wollen. Oder auch ganz anderes als Kunst zu deklarieren, weil da, so die Ansicht, mehr Möglichkeiten offenstünden – wegen der »Freiheit der Kunst«.
Können Sie über Ihr immerwährendes Projekt »a performancelife« berichten? Wie kamen Sie auf die Idee?
Im Freundes- und Bekanntenkreis gab es Krebserkrankungen, mein 40-jähriger Bruder starb an Nierenkrebs, mein Vater an Prostatakrebs. Ich erlebte die lindernde Wirkung von Zuwendung und begann, sie flächendeckender einzusetzen. Es entstanden erste Boards mit Solidaritätsunterschriften und -nachrichten für Kranke, die auf gute Resonanz stießen. Ich sammelte Projektbeteiligungen von Außenstehenden, um für die Erkrankung Krebs allgemein und für die davon Betroffenen zu sensibilisieren und um Patienten Empathie zukommen zu lassen.
Aber auch viele der Patienten bat ich um ihre Unterschriften bzw. ihre Wort- oder Zeichen-Äußerungen, um daraus Arbeiten für sie selbst und andere Betroffene zu machen.
Zwischenzeitlich erwischte es mich selbst – mit Brustkrebs. Meine Bildträger wurden unterschiedlicher und umfangreicher: Boards in verschiedenen Größen und Formen, riesige Planen, dreidimensionale Objekte – im Original belassen oder bearbeitet und abstrahiert. Und ich ließ auch Menschen auf mir selbst signieren, d. h. auf Kleidung, die ich trug. Es gibt wunderbar beschriftete Kleider, auch die »Armee der weißen Anzüge«, vorwiegend im asiatischen Raum beschriftet, die auch in Museen ausgestellt war. Dazwischen immer wieder Krankenbesuche, gute und schlechte Nachrichten, Beerdigungen. Ich lernte »Lachyoga«, leitete ehrenamtlich eine »Lachyoga-Gruppe für Krebspatienten«, unterrichtete auf Kongressen und in Kliniken, wobei viele dieser Auftritte Performances waren, etwa während meines mehrmonatigen Kunststipendiums in Japan, wo ich mit Ärzten, Schwestern und Klinikpersonal arbeitete. Festgehalten ist das in einem Buch, das ich zusammen mit anderen Brustkrebspatientinnen veröffentlichte.
Nachdem ich 2007 meine zweite Brustkrebserkrankung mit Ablatio überstanden hatte, feierte ich das mit einer Ausstellung im Kunstwerk Köln. Im Begleitprogramm gab es eine lange Nacht mit 30 Performances zum Thema »Krebs«/»Krankheit«/»Heilen«, die die von mir eingeladenen Künstlerkolleginnen und -kollegen als Geschenk mitbrachten.
Wie hat sich »a performancelife« weiterentwickelt?
Im Laufe der Zeit erweiterte ich die Adressaten auf Opfer anderer Kalamitäten, Unfälle, Naturkatastrophen, etwa Fukushima, Terrorangriffe. Hunderte Boards in verschiedensten Ausfertigungen habe ich weltweit verschickt – an Gruppen, Einzelpersonen, Repräsentanten einer Stadt bzw. Region, Organisationen. Nicht auf Antwort angelegt, weil an dem Ort bzw. in der Situation meistens »Land unter« war und die Menschen mit anderen (über-)lebensnotwendigen Dingen beschäftigt waren. Und trotzdem gab es Reaktionen, einige davon waren im Vonderau Museum mitausgestellt. Darunter das vom Mayor of London Sadiq Khan, der sich gleich für mehrere Boards bedankte, die London während einer Serie von furchtbaren Ereignissen mit Terroranschlägen und dem Brand eines Hochhauses erhalten hatte. Als jetzt Jacinda Ardern ihr Amt als Premierministerin von Neuseeland abgab, fiel mir ihr sehr persönlicher Dank für die Board »a performancelife for aotearoa« wieder ein, ebenso der Brief der Christchurcher Bürgermeisterin. Auch andere Politiker, die »a performancelife«-Boards bekommen hatten, etwa weil sie von Rechtsradikalen angegriffen worden waren, sind inzwischen nicht mehr im Amt. Ebenso der Berliner Bürgermeister Michael Müller, der nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz eine Board für die Stadt Berlin erhielt. Zwölf weitere Boards waren für die Familien der bei dem Anschlag Getöteten.
Im Museum waren jetzt auch Relikte des Starkregeneinbruchs vom 14. Juli 2020 in ein Kellerlager und ein -archiv zu sehen: Viele Kunstwerke und Doku-Material waren nicht mehr zu retten und auch nicht versichert. Darunter über 30 Stoff-Häuser des »a performancelife«-Projekts, die zusammen aufgebaut ein Dorf bilden konnten. Sie waren von oben bis unten mit Unterschriften und Wünschen in unterschiedlichsten Sprachen beschriftet und zusammengefaltet im Kellerlager aufbewahrt worden. Die Hoffnung, durch Trocknung Arbeiten zu retten, zerschlug sich in den meisten Fällen. Und mit Schimmel musste ich auch noch kämpfen. Ein Desaster, aber nichts im Vergleich zum Ahrtal, wo Menschen alles verloren und über 180 sogar ihr Leben. Ich sendete in der ersten Zeit keine Boards dorthin, sondern Spenden. Aber mancher Helfer freute sich später über eine Board als Anerkennung für seinen Einsatz.
Fassungslos macht zurzeit die entsetzliche Katastrophe in der Türkei und Syrien. Am ersten Tag danach bei einer Abgabestelle für Spenden habe ich verzweifelte und doch so starke Menschen in den Arm genommen, die um ihre Angehörigen bangen. Wir haben zusammen geweint.
Ihre Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) machten Sie zuletzt in einer existenzi-ellen Performance im Vonderau Museum Fulda zum Thema. Was hat Sie dazu bewogen?
Mit dem Satz »Wenn ich ein Deutscher wäre, würdest du mir vertrauen« brachte ein Mann mit Migrationshintergrund mich dahin, wo er mich haben wollte. Dieser Mann hat mich eingesperrt und mehrfach vergewaltigt, ein Messer an meinem Hals. Ich war mir sicher, am Schluss der Torturen umgebracht zu werden. Ich überlebte, er wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Das war keine wirkliche Genugtuung wegen der Gerichtsverhandlung vorher. Geheim hielt ich das, damit es nicht von anderer Seite zu einem Generalvorurteil missbraucht werden könnte. Als das Mobbing gegen mich aber zu stark wurde, ich sogar als Rassistin hingestellt werden sollte, musste ich mich wehren. Ich habe doch sogar 2015 bei der Flüchtlingskrise versucht zu helfen. Anonym, nirgendwo habe ich mich registrieren lassen – bloß nicht zurückverfolgbar, damit ich nicht vor oder im Haus bedrängt werden könnte.
Situationen, die mich wieder vor Gericht bringen könnten, vermied ich. Auch als ich bewusstlos geschlagen wurde. Im Rahmen von »a per-formancelife« hatte ich im Zug sporadisch Solidaritätsunterschriften für die Familie des ermordeten Walter Lübcke gesammelt, auch der Täter hatte das mitbekommen. Er wurde krawallig, hantierte laut mit seinem Handy und schlug mich nieder. Als ich aufwachte, lag ich zitternd auf dem Boden, eine Stunde lang, die Fahrt von Bonn nach Köln. Gehirnerschütterung und fünf Tage Krankenhaus – und neues Futter für die PTBS.
Man konnte den Täter nicht richtig belangen; er hat die gleiche Erkrankung wie Greta Thunberg – und kein Geld. Rechtskräftig verurteilt wurde er trotzdem, Voraussetzung für die anschließende Privatklage, die ich nicht einreichte. Ich wollte das Ganze so schnell wie möglich vergessen, was nicht gelang.
Wie beeinflusst die PTBS Sie und Ihre Kunst?
Ich habe gelernt, damit zu leben, das Damoklesschwert bleibt. Erlebe auch hautnah und schmerzhaft, wie es über anderen kreist. Weil ich trotz allem meine Standpunkte vertrete, wie jetzt die Kritik an der »Letzten Generation« in meiner Installation, bleibt manches unkalkulierbar. 2019 bei meiner Retrospektive im Kunstmuseum Ahlen positionierte ich mich in meinen Arbeiten und in Führungen gegen Gewalt und kritisch in der damaligen Genderdiskussion. Und ich veröffentlichte in der Arbeit »Und willst Du nicht mein Bruder sein« Instruktionen aus dem Internet, wie man Gewalt als aktionistische Kunst deklariert und den Staat lahmlegt. Das Museum wurde bedroht, ich auch. Per Post eingegangene Drohschreiben im gemeinsamen Briefkasten, welche ohne Briefmarke im Flur und auf der Treppe. Ähnlich wie damals in Kassel, nur nicht von rechts, sondern von links.
Sie möchten auch über das Thema Behinderung sprechen.
»Behinderung«, damals wegen Brustkrebs, erwähnte ich in einer Bewerbung für eine Ausstellung in »Kultur im Kleisthaus« des Behindertenbeauftragten: Eine Absage, unterschrieben vom Hubertus Heil, kam zurück. Ich ließ den Satz mit Behinderung weg, bewarb mich mit demselben Material beim Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen – und konnte dort das gesamte Erdgeschoss bespielen. Herr Heil folgte meiner Einladung dorthin und ließ mich wissen, dass er beeindruckt war.
2021 kam mein Fall vom Tatort Hessen zum LVR nach Köln aufgrund eines neuen Gesetzes, wodurch »Betroffene vor Ort« besser unterstützt werden sollten. Für mich geändert hat sich bisher nichts, dabei dachte ich, die haben Interesse an Kunst, Ausstellungsmöglichkeiten und Museen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Idenditätsdiebstahl musste ich bereits 2011 erfahren, wo eine Köln-Ehrenfelderin meine künstlerische Vita auf ihrer Webseite als ihre ausgab, für eine Ehrenfelder Street-Art-Arbeit wurde jahrelang unsere Adresse benutzt, Idenditätsklau in sozialen Medien und beim »a performancelife e. V.«. Ich engagierte mich damals in der »Anti-Lärm-Initiative-Ehrenfeld«, die zu Hochzeiten bis zu 60 Anwohner zählte und Rücksichtnahme auf Ältere und Kranke forderte. Viele Künstler- und Opferorganisationen machen eine gute Arbeit, andere sind bevormundend bzw. übergriffig, möchten Menschen zu (Untersuchungs-)Objekten machen, sind »Monopol-Inhaber«.
Was wünschen Sie für sich und Ihre Kunst in Zukunft?
Ich wünsche mir Hilfe bei dem, was auf Halde liegt, wie Fertigstellung von Buch und Videos. Sichermachen bzgl. Internet und Hilfe beim Versuch einer Webseite, die nicht wieder zerstört werden kann. Ich möchte, dass mein lebenslanges Projekt »a performancelife« noch lange mitwirkt, Menschen Zuversicht, Hoffnung und Mitgefühl zu geben und dafür einen bleibenden, sicheren Ort bzw. ein Zuhause. Weitere Ausstellungen und Performances sind willkommen – bitte mit Unterstützung in Organisation, da mir Manches mit 66 Jahren zunehmend schwerer fällt und die Gefährdung durch die PTBS präsent bleibt.