Nadia Parfan ist Filmregisseurin, Kuratorin, Mitbegründerin des »86 Festival of Film and Urbanism« und des ukrainischen Programmkino-Streamingdienstes takflix.com. Sie lebt und arbeitet in Kiew. Ihr Langfilmdebüt »Heat Singers« wurde im Erscheinungsjahr 2019 von der Ukrainischen Filmakademie und vom Verband der ukrainischen Filmkritiker als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hat sie nicht ins Exil getrieben. Sie hat sich bewusst gegen das Fliehen und fürs Bleiben entschieden. Ihr Film »Це побачення, englischer Titel »It’s a Date«, läuft bei der 73. Berlinale in der Kurzfilm-Kategorie. Peggy Lohse sprach mit ihr.

Peggy Lohse: Was macht das ukrainische Kino aus, was bedeutet es für Sie?

Nadia Parfan: Die Ukraine ist ja eine relativ junge Nation. Was in vielen schon gefestigteren Staaten als gegeben verstanden wird, müssen wir uns noch erkämpfen. Darum ist unsere Ukraine besonders stark und lebendig. Das Kino ist ja schon eine relativ alte Kunstform, über hundert Jahre alt. Aber bei uns pulsiert es in diesem Bereich sehr, der Film an sich ist sehr divers. Es ergeben sich dadurch besondere Kombinationen aus alt und neu. Wir sind das Land der Geschichten, wir sind gute Storyteller.

Wie hat sich der ukrainische Film in den letzten Jahren verändert, welche Rolle spielte dabei der Euromaidan, der Krieg im Donbass?

Bis 2014 gab es in der Ukraine praktisch keine eigene Filmindustrie. Aber seit 2014 ist sie geradezu aufgeblüht. Sie ist sehr energisch, verbindet die Gegenwart und das sowjetische Erbe. Ich persönlich bin ja vor allem Dokumentarfilmerin. Der Non-Fiction-Film ist in der Ukraine so bedeutsam, weil wir uns praktisch keine Spielfilme ausdenken müssten. Wir leben in so einer speziellen Realität, in der die Geschichten direkt vor unserer Nase ablaufen. Krieg ist natürlich seit Jahren das wichtigste Thema im ukrainischen Kino. Aber es gab verschiedene Phasen der Bearbeitung, die sich durch unterschiedliche Ansätze auszeichnen. Am Anfang wurden viele Reportagen gedreht, dann reine Dokumentationen. Mittlerweile entstehen auch viele fiktionale Filme im dokumentarischen Stil. Beispielsweise »Atlantis« (2019) von Valentyn Vasyanovych. Als ich im April mit einer Journalistin nach der Befreiung den Kiewer Vorort Butscha besuchte und die Spuren der Verbrechen dort sah, musste ich an diesen Film zurückdenken. »Atlantis« war fast prophetisch.

Wann, wo und wie hat Sie persönlich der russische Krieg gegen die Ukraine erreicht?

Das war verrückt, vielleicht mache ich darüber auch noch irgendwann einen kleinen Film … Weil der Februar immer so ein düsterer, depressiver Monat ist, mache ich in dieser Zeit jedes Jahr Urlaub im Mittleren Osten. Im letzten Jahr bin ich also auch am 5. Februar in die Wüste gefahren. Und dort erreichte mich die Nachricht von dem neuen russischen Überfall auf die Ukraine. Es war für mich verstörend, dass dann mein Mutterland angegriffen wird. Ich bekam viele Exil-Angebote von Bekannten und Freunden in Europa, ich war ja in dem Moment auch schon in sicherer Ferne. Aber ich ging zurück. Das erschien mir als meine Pflicht. Ich konnte und wollte mein Land, mein Kiew, so nicht zurücklassen. Also fuhr ich im März, über viele verschiedene Länder und dem damals so großen Flüchtendenstrom entgegen, erst in die Westukraine zu meiner Familie. Im April dann zurück nach Kiew. Seitdem lebe und arbeite ich weiter dort. Ich habe mir jetzt sogar mein erstes Tattoo stechen lassen − mit den Grenzen meiner Stadt Kiew. Eigentlich verbindet mich mit ihr eher eine Hassliebe. Aber es ist doch eben meine Hauptstadt.

Welche neuen, zusätzlichen Aufgaben will das ukrainische Kino jetzt angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erfüllen?

Nachdem Russland im Februar die Ukraine überfallen hatte, haben wir bei takflix.com erst mal festgestellt, dass die Zuschauerzahlen sinken. Klar, der Krieg war ins ganze Land vorgedrungen. Da will man vorerst keine Filme sehen. In den folgenden Wochen aber verdoppelten sich die Zahlen. Wo es in Luftschutzräumen Strom und Internet gab, begannen die Leute, Filme zu schauen. Da habe ich verstanden, dass das Kino gerade jetzt wichtig und gefragt ist. Seit Monaten am meisten geschaut werden Filme aus und über Mariupol. Die Leute schauen Tragikomödien, sehr viele Filme über die Ukraine, ihre Regionen, Geschichte und Traditionen. In allen Bereichen sind jetzt ukrainische Autorinnen und Autoren gefragt. Da passiert so eine Selbsterkundung, um die ukrainische Identität besser zu verstehen. Das gehört zum Prozess der Selbstdekolonialisierung. Wir entdecken unsere eigene Stimme, die nichtrussisch und nichtwestlich ist. Wir entdecken damit auch unsere eigenen marginalisierten Gruppen innerhalb der Ukraine. Wir werden solidarischer mit LGBTQ, mit Krimtataren und auch beispielsweise mit Syrien, weil wir jetzt erst erkennen, was es bedeutet, von russischen Bomben zerstört zu werden.

Wie verändert der Krieg Ihre Arbeit und die Kulturarbeit in der Ukraine?

Sehr stark, selbst dort, wo noch keine Theater, Kinos und andere Kulturräume zerstört sind. Ich war vor ein paar Tagen in Sakarpattja, der südwestlichen Region an der slowakischen Grenze, in der es keine nächtliche Sperrstunde gibt. Da ist mir erst richtig bewusst geworden, dass allein diese Sperrstunde unser kulturelles Leben stark einschränkt, weil der Freizeitteil des Tages nun noch kürzer ist. In Kiew darf man nach 23 Uhr nicht mehr auf die Straße.

Wir haben Glück: Unser kleines Kino 42 in Kiew hat seine Räume im Keller. Wir sind dort also Schutzraum und Kino gleichzeitig, wir müssen unsere Vorstellungen nicht unterbrechen, wenn es Luftalarm gibt. Aber die meisten Theater, Museen, Kinos müssen das. Wir als Kulturakteurinnen und Kulturakteure tragen nun doppelte Verantwortung: für die Inhalte des Programms und auch noch für die Sicherheit des Publikums.

Es ist eine ganz neue Art zu leben entstanden. Jede Arbeit ist viel komplizierter geworden, man braucht immer einen Plan A, aber auch noch Pläne B und C, falls irgendetwas nicht klappt, Personen ausfallen oder Logistik nicht funktioniert. Gleichzeitig arbeiten alle Leute viel mehr, neben der Arbeit engagieren sie sich noch ehrenamtlich und organisieren Spenden, Hilfe für Geflüchtete oder Militäreinheiten. Wir fühlen uns alle verantwortlich, aber wir sind auch alle total überarbeitet.

Wie stehen Sie zur Forderung, russische Kultur zu boykottieren?

Wir befinden uns da in einem wichtigen Dekolonialisierungsprozess. Das Verständnis über russische Kultur muss revidiert werden. Ich finde: Solange Russland in der Ukraine z. B. auch Museen und Theater zerstört, sollte russische Kultur wenigstens vorübergehend nicht produziert und gezeigt werden. In der Zwischenzeit kann sie sich neu definieren. Der russische Imperialismus steckt auch in der Kultur, und zu diesem kulturellen Kolonialerbe gehört ebenso der Militarismus. Das muss eine wichtige Lektion sein, um kritischer zu denken und auch sogenannte Soft-Power-Strukturen zu erkennen. Die Ukraine wurde so lange stumm gehalten, jetzt gehört die Bühne uns.

Welche Unterstützung wünschen Sie sich von deutscher beziehungsweise westlicher Seite?

An diesem Punkt möchte ich mich vor allem erst einmal bedanken für all die Unterstützung, die die Ukraine und unser Kulturbetrieb bisher schon bekommen hat! Institutionen wie das Goethe-Institut oder die Berliner Filmakademie unterstützen uns sehr. Ich weiß, dass Verwaltung und Bürokratie in Deutschland beispielsweise nicht so schnell reagieren können. Aber jetzt ist doch vieles schneller passiert − das ist für uns in der Ukraine sehr wertvoll!

Um unsere Kulturschaffenden und unseren Kulturbetrieb weiter zu stärken, brauchen wir aber natürlich auch mehr militärische Unterstützung für unser Land! Viele Filmemacher sind ja auch an die Front gegangen, um unser Land zu verteidigen. Dort aber brauchen wir mehr moderne Waffen, damit auch sie alle bald gesund zurückkommen können. Alles andere übernehmen wir dann selbst und schützen damit uns und ganz Europa. Gleichzeitig entdeckt nun auch die ganze Welt dieses Ding namens »Ukraine«, man interessiert sich für uns und unsere Geschichte. Dafür sollte den ukrainischen Kunst- und Kulturschaffenden mehr Raum gegeben werden, wo sie dann selbst für sich und uns sprechen können. Endlich als authentische, ukrainische Stimmen! Ich hoffe sehr, dass dieses große Interesse nicht so schnell wieder verfliegt. Momentan sehe ich: Unsere Kultur wird überall gebraucht wie nie zuvor.

Welche fünf ukrainischen Filme sollte man unbedingt gesehen haben?

Die Komödie »My Thoughts Are Silent« (2019) von Antonio Lukich, die Coming-of-Age-Story »Stop-Zemlia« (2021) von Kate Gornostai. Aber auch »Moustache Funk« (2021) von Oleksandr Kovsh und Vitalii Bardetskyi und »Enter Through the Balcony« (2020) von Roman Blazhan und Mikhail Volkov zur postsowjetischen Architektur. Und natürlich meinen Film zu Energieversorgung »Heat Singers« (2019). Alle fünf sind in Deutschland verfügbar mit deutschen und/oder englischen Untertiteln.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.