»Ich trink aufs zerstörte Haus,/ Auf mein Leben, das schlimm war und rauh,/ Auf die Einsamkeit zu zweit,/ Auf dich auch trink ich eins – /Auf den Lügenmund, der mich verriet,/ Auf die Todeskälte des Blicks,/ Auf die grausam grobschlächtige Welt,/ Auf Gott, der sich fern von mir hält.« 

Dieses Gedicht schrieb die russische Lyrikerin Anna Achmatowa 1934. Ich hörte es das erste Mal 52 Jahre später im Rahmen einer privaten Veranstaltung anlässlich ihres 20. Todestages und lese es jetzt, in Zeiten des Krieges gegen die Ukraine, immer wieder.  

Die 1889 Geborene erlitt in diesen fast acht Jahrzehnten ihres Lebens eine an Wendepunkten, Katastrophen und Ereignissen kaum zu überbietende Zeit. Zarismus, stalinistisches Blutbad und zwei Weltkriege mit kaum vorstellbaren Folgen für wirtschaftliche, politische und kulturelle Traditionen. In ihren Erinnerungen notierte sie: »Ich bin mit Charlie Chaplin, Tolstois ›Kreuzersonate‹, Hitler (…) zur Welt gekommen.« 

Achmatowa galt als Ikone des Widerstandes, gleichzeitig aber hatte sie in ihrer Verzweiflung eine Ode auf Stalin verfasst in der Hoffnung, ihrem Sohn damit die jahrelangen Demütigungen im Straflager erleichtern zu können.  

Andrej Schdanow, Stalins radikaler und erbarmungsloser Säuberer, bezeichnete die Achmatowa als »Nonne und Hure zugleich«, sie und andere Autorinnen und Autoren als »ideologisch schädlich«, als »Speichellecker des Westens«. Diese Sprache glaubte ich in einer weit entfernten Vergangenheit angesiedelt und erschrak, als sich Putin am 21. Tag des Krieges gegen die Ukraine mit folgenden Worten an die Bevölkerung wandte: »Jedes Volk, und insbesondere das russische Volk, wird immer die wahren Patrioten von dem Abschaum und den Verrätern unterscheiden können, um diese einfach auszuspucken wie eine Mücke, die versehentlich in ihren Mund geflogen ist«, und in diesem Zusammenhang dem Westen vorwarf, die russische Gesellschaft spalten zu wollen. 

Plötzlich offenbart sich im Krieg mit der Ukraine, dass nicht nur der Kampf der Ukrainer um Unabhängigkeit mit den Großmachtfantasien der russischen Seite, sondern die westlichen Bündnisse mit der Politik Putins kollidieren, weil sie sich völlig gegensätzlichen Wertesystemen verpflichtet fühlen. 

Trotzdem ist das heutige Russland – obwohl Putin’sche Rhetorik dem widerspricht – nicht das der Stalinära. Seit Gorbatschows Glasnost und Perestroika ist beispielsweise Anna Achmatowa in ihrem Land offiziell rehabilitiert und umfänglich verlegt worden. Dass jedoch kulturelle Zugeständnisse kein Indiz für demokratischen Wandel sind, zeigt der Ukrainekrieg deutlich. Kritische Analyse von Wahrheit und Lüge in der Politik könnte helfen.  

Vor fast zwei Jahrzehnten entdeckte ich in einem Piper-Taschenbuch die zwei Essays der Philosophin Hannah Arendt »Wahrheit und Lüge in der Politik«. Zu lesen ist: »Lügen erscheinen dem Verstand häufiger viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht. Er hat seine Schilderung für die Aufnahme durch die Öffentlichkeit präpariert (…), während die Wirklichkeit die unangenehme Angewohnheit hat, uns mit dem Unerwarteten zu konfrontieren, auf das wir nicht vorbereitet waren.« 

Führt jetzt diese These nicht unweigerlich zu folgenden Fragen: Warum empörten sich so viele in unserem Land über den offenen Brief, den 26  Prominente aus dem Kultur- und Medienbereich an Bundeskanzler Olaf Scholz schrieben und in ihm vor einer weiteren Eskalation des Ukrainekriegs warnten? Warum wird dem Sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, der forderte, den Ukrainekrieg »ein(zu)frieren« »Anbiederung an Kriegsverbrecher Putin« von seinen Kritikern vorgeworfen? Gleichzeitig blieben sie die Antwort schuldig, wie der Krieg enden kann ohne eine internationale Verhandlungsoffensive, die gleichbedeutend dem Einfrieren des Konfliktes wäre. Erstaunlich, dass es weniger die politischen Akteure sind, auf denen eine Rechtfertigungslast liegt; es wird von denjenigen, die Gegenvorschläge anbieten, Rechtfertigung erwartet. 

Bereits Anna Achmatowa trank auf den Lügenmund, der sie verriet. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.