»Heute ist Polen unser wichtigster, weil schwierigster Nachbar«. Den Satz hörte ich erstmals im April 1994 in Aachen. Der Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller VS hatte sich zu seinem 12. Kongress dort getroffen. Der Autor und Kulturpolitiker Erich Loest warf diesen Satz in die Kongressdiskussion und knüpfte an ihn konkrete Vorschläge. Hauptaufgabe des Verbandes sollte es in den kommenden Jahren sein, polnische Literatur in Deutschland zu fördern und deutsche Literatur in Polen. »An der Spitze der Initiative stehen vier Schriftstellerinnen und Schriftsteller«, verkündete Loest, »die aus dem Gebiet des heutigen Polen stammen, Christa Wolf, Günter Grass, Siegfried Lenz und Marcel Reich-Ranicki.«
Nach drei Jahren Arbeit an diesem »Polenplan« – so die mediale Kurzform des Vorhabens – blickte der Verband auf eine Anthologie zurück, die je zur Hälfte aus polnischer und deutscher Prosa bestand, veröffentlicht in einer deutschen und einer polnischen Ausgabe. Kooperationen waren entstanden mit den Goethe-Instituten in Warschau und Krakow. Ein Poetendampfer fuhr entlang der Oder und Neiße. In den deutschen und polnischen Anliegerstädten lasen Autorinnen und Autoren beider Länder. Fast alle deutschen Bundesländer schlossen sich diesen Aktivitäten an, Hunderte Veranstaltungen kamen zustande. Die polnische Botschaft, die Friedrich-Ebert-Stiftung, das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt hatten geholfen. Und immer wieder stand dieser eine Satz im Mittelpunkt: »Heute ist Polen unser wichtigster, weil schwierigster Nachbar.« Allein in Sachsen fanden in einem Jahr 40 Veranstaltungen statt mit polnischen Gästen. Das Bildungswerk Sachsen der Deutschen Gesellschaft unterstützte mit seinen Reisen den literarischen Austausch bis weit nach Ostpolen hinein. Finanziell half Brüssel, half Inter Nationes.
Der Stein, der mit diesem Plan in Weichsel und Elbe geworfen wurde, zieht noch immer seine Kreise, zeigte sich 17 Jahre später, als ich 2011 von einer Briefpartnerschaft erfuhr zwischen deutschen und polnischen Grundschülerinnen und -schülern. Sie wurde Ausgangssituation einer langfristigen Schulkooperation in der Grenzregion Brandenburg-Lubuskie. Die Deutsch-Polnische Bildungsbrücke zwischen Schulen der Rahn Education war damit geboren – eine Kooperation des Gymnasiums und der Grundschule in Zielona Góra, dem Campus im Stift Neuzelle sowie dem Campus am Spreebogen in Fürstenwalde, mit dem Ziel, einen Raum für interkulturelle Begegnung zu schaffen und die grenzübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Schulen auszubauen.
Klar war: Von einer gemeinnützigen, privaten Schulgesellschaft, wie der Rahn Education, die international agiert, ihren Stammsitz aber auf dem Campus Graphisches Viertel in Leipzig hat, wird viel erwartet. Der Spiritus Rector und Motor der Deutsch-Polnischen Bildungsbrücke, der Geschäftsführer Gotthard Dittrich, motivierte engagierte Lehrer und Schulleiter, die Standorte eng miteinander zu verknüpfen und Projekte ins Leben zu rufen, die dem Credo folgten: Wer ist mein Nachbar, meine Nachbarin – wie lernen und leben sie –, wodurch verstehe ich ihre Sprache und sie die meinige?
Immer wieder ist diese Bildungsbrücke neu begehbar. In Zielona Góra setzten sich Schülerinnen und Schüler mit dem Thema Medien auseinander, dabei stand die Nutzung des Radios im Vordergrund. Podcasts zum Thema »Digitalunterricht« und »Maskenpflicht« entstanden.
Am 27. September letzten Jahres, am Fremdsprachentag, trafen sich Schülerinnen und Schüler aus Vietnam, Polen, Deutschland, Ägypten, Russland und China in Zielona Góra zur interkulturellen und multilingualen Vernetzung. Organisiert wurde der Austausch von der Leiterin der Sprachschule am Campus im Stift Neuzelle und der Vizedirektorin in Zielona Góra.
Im Juni 2022 rückt die jüdische Kultur und das jüdische Leben Polens in den Vordergrund des Bildungsaustausches. Bereits in der Vorbereitung wurde deutlich: Die polnische Geschichte ist ohne die Geschichte der polnischen Juden nicht nachvollziehbar. Das Grundanliegen der Deutsch-Polnischen Bildungsbrücke bleibt weiterhin: Verstehen zu fördern und Verständnis aufzubauen, für unseren vielleicht wichtigsten, östlichen Nachbarn.