Wie ist es um die aktuelle Situation ukrainischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Verlagswesen bestellt? Der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Peter Kraus vom Cleff gibt Sandra Winzer Auskunft. 

Sandra Winzer: »Das Verlagsgeschäft in der Ukraine befindet sich derzeit in einem anämischen Zustand.« Das hat Oleksandr Afonin, Präsident des Ukrainischen Verlags- und Buchhandelsverbandes UPBA, gesagt. Würden Sie das unterschreiben? 

Peter Kraus vom Cleff: Ich glaube, dass Herr Afonin diese Situation völlig zutreffend beschreibt. Viele Verlage und Buchhandlungen haben Produktionsräume oder Buchbestände verloren. Das habe ich von Kolleginnen und Kollegen der Ukrainian Publishers and Booksellers Association (UPBA) gehört, deren Präsident Oleksandr Afonin ist. Aber auch vom Ukrainian Book Institute, mit dem wir zusammenarbeiten. Während wir die Bilder aus Kriegsgebieten wie Kiew verfolgen, sind vor allem Verlagsräume, Lager und Druckereikapazitäten betroffen. Die Zentren der ukrainischen Verlagslandschaft sind Kiew und Charkiw. Insbesondere Charkiw wird in den kommenden Tagen in eine schwierige Situation kommen. 

Gebiete, die von Beginn an heftig umkämpft waren. Würden Sie sagen – wenn wir Hilfe anstoßen, dann vornehmlich dort – in diesen Zentren des ukrainischen Verlagswesens? 

Ich denke schon, dass die Ukraine in verschiedenen Gebieten Unterstützung brauchen kann. Nehmen wir etwa Odessa – die Stadt hat auch noch mal ihre eigenen kulturellen Räume. Ich glaube, dass man aus der Ukraine heraus mit Bedacht entscheiden sollte. Deswegen unterstütze ich auch unseren Ansatz, zu sagen: Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe. Wir sammeln Geld, das die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen dann für Nothilfe, aber vor allem auch für den Wiederaufbau nutzen können. 

Lassen Sie uns ins Detail gehen. Wie genau kann das Verlagswesen in der Ukraine effektiv unterstützt werden? 

Zum einen sicherlich, indem man finanziell unterstützt. Gemeinsam mit der UPBA haben wir ein Hilfsprojekt für Verlage, Buchhandlungen und Autorinnen ins Leben gerufen. Durch Spendengelder sollen die Kolleginnen und Kollegen in akuter Notlage unterstützt sowie der Wiederaufbau der Buchbranche in der Ukraine gefördert werden. Wer spenden will, findet alle Informationen unter boersenverein.de/ukraine. 

Über die Federation of European Publishers organisieren wir außerdem ein Crowdfunding-Projekt. Immer dann, wenn wir 5.000 Euro zusammen haben, kaufen wir vom Ukrainian Book Institute Bücher oder produzieren gemeinsam mit ihm Kinder- und Jugendliteratur. Diese Bücher werden dann an Geflüchtete verteilt. Die erste Tranche wird gerade in Polen an acht Aufnahmezentren verteilt. Die nächste folgt in Deutschland. Hier werden wir von einer Druckerei von Kinderbüchern unterstützt, die die Bücher in Deutschland produzieren und verteilen kann. Verlage können außerdem Lizenzen von ukrainischen Verlagen erwerben. Die Kolleginnen und Kollegen rund um Oleksandr Afonin in der Ukraine haben eine Vorschlagsliste mit verschiedenen Werken ukrainischer Autorinnen und Autoren erstellt, von denen man Lizenzen kaufen kann. Die Übersetzung dauert natürlich und Kapazitäten für die Übersetzung sind nicht unbegrenzt vorhanden. Hier aber kann man sagen: Ich erwerbe eine Lizenz und unterstütze dadurch, dass ich ukrainischen Autorinnen und Autoren eine Stimme gebe. 

Hilfe zur Selbsthilfe also. Auch in Deutschland sind ukrainische Autorinnen und Autoren ihres Marktes beraubt – welche Unterstützung gibt es hier?  

Ich erlebe eine große Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität bei den Verlagen insgesamt. Vom Buchhandel bis hin zum Zwischenbuchhändler werden alle möglichen Dinge angestoßen. Kolleginnen und Kollegen aus der Logistik etwa fahren Hilfsgüter und nehmen flüchtende Menschen mit. Es gibt Verlage, die Infrastruktur zur Verfügung stellen und auch Buchhandels-Aktionen: z. B. werden Thementische organisiert, mit denen auf die ukrainische Kultur und deren Schriftstellerinnen und Schriftsteller aufmerksam gemacht werden.  

Im Alternativprogramm zur Leipziger Buchmesse haben wir verschiedene Veranstaltungen organisiert: eine Lesung in Kooperation mit der Initiative »Eine Brücke aus Papier«, eine Friedens-Demonstration. Ich finde es beeindruckend, was die Branche hier in Deutschland für die Branche in der Ukraine auf die Beine stellt. 

Stichwort »Brücke aus Papier« – das Thema Papiermangel ist und bleibt ein großes, oder? 

Ja, der Papiermangel beschäftigt uns generell. Bei der gefährdeten Infrastruktur der Ukraine ist der Papiernachschub, selbst wenn es noch eine Druckerei gibt, natürlich ein zusätzliches Hindernis. Auch wenn wir in Deutschland drucken, schauen wir, dass wir, wo möglich, Papier abknapsen, um ukrainische Bücher zu produzieren. Ein Beispiel ist die nächste Tranche aus dem Crowdfunding der European Publishers. Da müssen wir Papierkapazitäten organisieren – und das machen wir auch. 

Geld- und Papiermangel, fehlende Druckkapazitäten und schrumpfende Lagerbestände. Sie sprachen von Verlagen, die Infrastruktur zur Verfügung stellen. Passiert das in der Ukraine oder in Deutschland? 

Hier in Deutschland – für Geflüchtete. Ich bin von verschiedenen Häusern angesprochen worden, die Räume bereitstellen wollen für Verlage, die aus dem Exil etwas produzieren wollen. Bei Oleksandr Afonin etwa und anderen Kolleginnen und Kollegen spüre ich aber auch eine große Zuversicht, in möglichst naher Zukunft in die Ukraine zurückkehren zu können. 

In welcher Form äußert sich diese Zuversicht? 

Dazu habe ich ein handfestes Beispiel. Unsere Interessengruppe Belletristik & Sachbuch organisiert am 31. Mai eine Veranstaltung. Im Zuge der Vorbereitungen stand die Frage im Raum, ob Oleksandr Afonin und ich ein Zwiegespräch mit Übersetzung führen. Herr Afonin hat gesagt, dass er das sehr gerne machen möchte, sofern er nicht schon wieder zurück in der Ukraine ist. 

Was können Einzelpersonen unternehmen, um eine Hilfe zu sein? 

An unserer Spendenaktion können sich auch Privatpersonen beteiligen. Und dann würde ich mich über die faszinierende Literatur- und Kulturszene der Ukraine informieren – etwa in die örtliche Buchhandlung gehen und Werke ukrainischer Autorinnen und Autoren kaufen. Mit großem Interesse und Bestürzung habe ich z. B. ein Buch von Karl Schlögel gelesen – »Entscheidung in Kiew«. Das hat er vor sieben Jahren mit großer Weitsicht geschrieben, nach der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim und dem getarnten Krieg im Donbas. Hier lernt man sehr viel, in dem Schlögel Porträts einzelner Städte beschreibt. Ich habe sehr viel über die ukrainische Kultur, Geschichte und die dort lebenden Menschen gelernt – es geht immerhin um unsere ukrainischen Nachbarn. 

Ist es möglich, dass das Verlags­wesen aus der Ukraine gestärkt aus der aktuellen Situation hervorgehen kann – durch mehr Kenntnis und Bekanntheit der Branche? 

Rein kulturell würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ökonomisch ist es dagegen mit Sicherheit ein Desaster; da braucht es ein echtes Wiederaufbau-Programm. Ich lerne selbst aber gerade sehr viel über die ukrainische Branche. Es gibt etwa eine sehr interessant aufgestellte ukrainische E-Book-Plattform: Yakaboo. Sie ermöglicht es, hier in Deutschland lebenden Geflüchteten online ukrainische Bücher zu lesen.  

Die Digitalisierung hat auch in der Ukraine durch Corona einen Schub bekommen – wird sie mit dem Krieg noch einmal wichtiger? 

Ich glaube, ja. Ich finde es beeindruckend zu sehen, wie schnell ukrainische Lehrerinnen und Lehrer Unterricht für ukrainische Kinder online angeboten haben. Die Kinder gehen zwar hier in Deutschland in die Schule, ihre Lehrerinnen und Lehrer bieten aber weiterhin zusätzlich Online-Unterricht an. Es ist eine gute Möglichkeit, für Klassen, die auseinandergerissen wurden, sich weiterhin zu treffen und nach wie vor unterrichtet zu werden. Das finde ich berührend und beeindruckend zugleich. 

Vor etwa einer Woche las ich in der ZEIT, dass rund ein Drittel der Kinder in der Ukraine geflüchtet sind. Mit dieser Zahl wird das Ausmaß deutlich. Es geht um kleine Kinder bis hin zu jungen Erwachsenen, denen der Online-Unterricht helfen kann, das Zugehörigkeitsgefühl weiterhin zu erhalten.  

Auch der ukrainischen Literatur kann die Digitalisierung helfen. Wenn ich mir vorstelle: Ich müsste einen Rollkoffer packen und mit meiner Frau mein Heim verlassen, nehme ich logischerweise keine umfangreiche Bibliothek mit. Insofern ist, glaube ich, der Bedarf, im Exil ukrainische Literatur zu lesen oder sich informieren zu können, sehr groß. 

Was ist der nächste Schritt für den Börsenverein – weiter auf Kurs bleiben und für Hilfe und Ressourcen sorgen?  

Wir möchten Kondition zeigen, unsere Unterstützung für die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen soll kein Strohfeuer sein. Wir sind bereit, auch eine längere Strecke mitzugehen. Deswegen auch unser Spendenaufruf, mit dem wir hoffentlich viele Ressourcen für den Wiederaufbau der ukrainischen Branche bereitstellen können. Wir wollen eine zuversichtliche und langfristige Perspektive einnehmen. Die Aufgabe von uns allen ist und bleibt, Hilfsbereitschaft zu zeigen – und das nicht nur verbal, sondern am Ende auch abzuliefern.  

Vielen Dank.  

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2022.