Wer sich in den vergangenen drei Jahrzehnten mit dem postsowjetischen Erbe im Planen und Bauen befasste, konnte dies mit einem ausschließlichen Fokus auf Russland erfolgreich tun. Die Kenntnis der Besonderheiten etwa der baltischen Staaten, des Kaukasus, Zentralasiens oder der Ukraine galt nicht als Voraussetzung für die wissenschaftliche Arbeit. Selbst 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR feierte sich der Verband der sowjetischen Architekten ein letztes Mal bei einer Konferenz im Architekturzentrum Wien – initiiert von russischen Architekten. Die begleitende Ausstellung »Sowjetmoderne«, die als Begriff von dem kürzlich verstorbenen Architekten Felix Novikov eingeführt wurde und der Ära zwischen Stalin und Glasnost einen griffigen Namen gab, vermied zwar eine zu starke Fokussierung auf Russland. Auch wenn die Schau zum Jahreswechsel 2012/13 bewusst nur die nichtrussischen Republiken und ihre Vielfalt in den Blick nahm, war es für eine kritische Debatte über den Umgang mit dem Erbe einer von Moskau dominierten Baukultur offensichtlich noch zu früh. Der Schwerpunkt lag auf der Identifizierung von Bauwerken und ihrem ästhetischen Beitrag zur Stilfindung. Westliche Universitäten hatten seinerzeit die Folgen des Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts längst erforscht. Die Baugeschichtsschreibung folgte aber immer noch dem russischen Narrativ, die Sowjetunion habe die Hoheit über die Architektur den Republiken überlassen. Selbst wenn in Taschkent, Tiflis oder Kiew einheimische Architekten am Werk waren, mussten ihre Entwürfe für wichtige Gebäude immer mit den örtlichen Parteikadern und ihren Führungsoffizieren in Moskau abgestimmt werden – sei es in vorauseilendem Gehorsam oder durch Selbstzensur. Der ukrainische Stadtforscher Oleksandr Anisimov bemerkte kürzlich: »Mein Eindruck ist, dass die postkolonialen Diskussionen, die in den Neunzigerjahren begannen, in Bezug auf Russland lange Zeit nicht in der gleichen Weise geführt wurden. Aber diejenigen, die über die Ukraine als eine Art Satellit Russlands sprechen, akzeptieren die russische Sichtweise und anerkennen die von Putin behauptete Nichtexistenz der Ukraine.« 

Neue Wohnungsbaupolitik 

Anisimov gehört zu einer Gruppe junger Aktivisten, die sich mit neuen Strategien im Wohnungsbau befassen. Der Krieg zwinge den Markt dazu, anders und unkonventionell zu handeln. Seine Kolleginnen Galyna Sukhomud und Vita Shnaider forderten kürzlich in der renommierten Architekturzeitschrift Bauwelt: »Die ukrainische Wohnungsbaupolitik muss sich diversifizieren. Dazu zählt vor allem die Förderung von Genossenschaften, Baugruppen und kommunalem Wohnungsbau.« Im sozialpolitischen Kontext der Ukraine sind diese Schlagworte noch neu. Denn die bedingungslose Übertragung von Immobilieneigentum aus der sowjetischen Erbmasse und das völlige Fehlen staatlicher Kontrolle haben in der Ukraine zu einem ambivalenten Verhältnis zur Wohnkultur geführt. Fast jede Familie verfügt über Immobilieneigentum – auch wenn sie nicht die finanziellen Mittel aufbringt, diesen Besitz zu unterhalten oder gar zu modernisieren. Das Wohnen erfolgt seit einer Generation auf Verschleiß. 

Die tschechischen Soziologen Martin Lux und Petr Sunega beschreiben die Massenprivatisierung des Wohnungsbestandes nach dem Ende des Sozialismus als eine alternative Form des Wohlfahrtsstaates. Allerdings ging damit auch eine Privatisierung der Wohnungsfürsorge einher, die in westlichen Demokratien traditionell ein Instrument der Sozialpolitik ist. »Obwohl das bestimmende Merkmal des postsozialistischen Wohnungswesens die Massenprivatisierung zur Schaffung von Super-Wohnungsbaugesellschaften war, wurde der ausdrückliche Rückzug des Staates nicht durch die Schaffung von Institutionen oder Kulturen ersetzt, die für die Schaffung voll finanzierter Wohnungsmärkte erforderlich sind.« Stattdessen gebe es eine Form von staatlich vererbter Wohlfahrt in Form von schuldenfreiem Wohneigentum, wodurch eine Lücke in der Wohnungswohlfahrt entstanden sei, die teilweise von den Haushalten in Form von generationenübergreifender Unterstützung und Eigenleistung geschlossen werde. In der Bevölkerung der frühen 1990er Jahre mag der Besitz von Eigentum als Entschädigung für jahrzehntelange Unterdrückung durch Partei und Staat verstanden worden sein. Es führte aber auch zu einer grundsätzlichen Anspruchshaltung gegenüber den neuen Machthabern, dass der Staat sein Eigentum an die Bürger verteilen sollte.  

Das Vakuum, das der Rückzug des Staates aus dem Wohnungsbau hinterlassen hat, wird bis heute von privaten Unternehmen gefüllt. Dennoch blieb der Staat mit 80 Prozent Hauptaktionär einiger Unternehmensgruppen wie Kyivmiskbud, früher Glavkievgorstroi. Der öffentliche Sektor ist damit selbst zu einem profitorientierten Akteur auf dem freien Markt geworden und verfolgt nur noch am Rande die Förderung des Wohnungsneubaus etwa für junge Familien oder sozial Benachteiligte. Einige dieser privaten oder teilstaatlichen Konsortien decken die gesamte Wertschöpfungskette des Wohnungsbaus ab: von der Konzeption und Planung über die Erschließung und den Bau bis hin zur Vermarktung und Finanzierung. Nach Fertigstellung übernehmen die Projektentwickler oft auch die Hausverwaltung und das Facility Management als dauerhafte Dienstleistung. Die Synergie zwischen dem investierenden Bauherrn, dem planenden Architekten und dem ausführenden Unternehmen lässt die einzelnen Schritte reibungsloser ablaufen, birgt aber die Gefahr, dass sich wirtschaftliche Entscheidungen ungehindert gegen qualitative Verbesserungen durchsetzen. Die großen Immobilienmagnaten haben ihre Wohnungsproduktion längst perfektioniert. Ihre mehrstöckigen Wohnkomplexe tragen ihre individuelle Handschrift.  

Wo sich sowjetische Typenreihen noch durch Fensteranordnungen, Balkonbrüstungen und Außenwandverkleidungen auszeichneten, konkurrieren die privaten Akteure auf dem Wohnungsmarkt heute mit bunten Fassaden, Außengestaltung und wohnungsnahen Dienstleistungen. Eine neue Wohnsiedlung zu finden, die kein Sicherheitssystem von der Nachbarschaft trennt, ist die Ausnahme. In Odessa geht der einflussreichste Projektentwickler, Kadorr, sogar so weit, seine Wohntürme mit bis zu 25 Stockwerken zu nummerieren – nach dem Muster einer sozialistischen Idealstadt, einer »Sozgorod«, aber als »Gated Community«. Neben jeder Zahl thront eine Friedenstaube mit einem Olivenzweig. Die Dachaufbauten sind so hoch wie einige der alten Gebäude in der Nachbarschaft, was bei den Betonburgen städtebaulich nicht beachtet wird. Diese Demonstration privater Macht zeigt auch, wie schwach die staatliche Genehmigungsbehörde ist. Das erinnert unweigerlich an die eurasische Stadtplanung, die den Massenwohnungsbau dem Turbokapitalismus überlassen hat und in Moskau, Astana oder Aşgabat Wohnhochhäuser auf der grünen Wiese entstehen ließ –immer mit sozialer Infrastruktur, manchmal sogar mit Verkehrsanbindung an das Stadtzentrum, aber nie mit der erkennbaren Idee eines wohlgeformten Stadtkörpers. Auch deshalb unterscheidet sich diese Erfüllung von Richtwerten kaum von der Stadtplanung der sowjetischen Vergangenheit. 

Co-Living in Irpin 

In der jüngsten Vergangenheit sind viele Versuche, den ukrainischen Wohnungsbestand durch energieeffiziente Renovierung zu modernisieren, gescheitert. Gut gemeinte EU-Programme konnten nicht umgesetzt werden, weil die potenzielle Zielgruppe einfach nicht über das notwendige Kapital verfügte. Die Finanzierung einer neuen Heizungsanlage beispielsweise, die mit 5.000 Euro pro Wohneinheit gefördert worden wäre, scheiterte oft daran, dass die Bewohner die im Programm geforderten 5.000 Euro nicht aufbringen konnten oder wollten. Hinzu kommt, dass die Energiekosten in der Ukraine so niedrig sind, dass sich die Investition für viele Bewohner nicht rechnen würde. Dabei sind es gerade die seriellen Wohngebäude aus der Chruschtschow-Ära, die eine grundlegende Erneuerung der Haustechnik erfordert hätten. Das Ergebnis wird wohl sein, dass die alten Gebäude weiter bewohnt werden, weil sie sich abnutzen und bei Katastrophen nur notdürftig repariert werden. Eine Modernisierungspolitik wird sich wohl vorerst auf den Wohnungsneubau konzentrieren müssen, der aber die bestehenden Monostrukturen nicht stärken wird. Genossenschaftsmodelle nach Schweizer Vorbild, Baugruppenmodelle nach deutschem Vorbild oder der unkomplizierte Umbau bestehender Nichtwohngebäude – die wohl schnellste und klimafreundlichste Methode – gehören jedoch in das Pflichtenheft der nächsten Generation ukrainischer Wohnungspolitiker. Auch der Bau von Boardinghäusern für temporäre Bewohner könnte den Wohnungsmarkt entlasten. Ein solches Co-Living-Projekt hatte Lena Rantsevich in Irpin bei Kiew 2017 initiiert. Im März wurde es von der russischen Armee zerstört. Rantsevich und ihre Familie flüchteten nach London. 

Die Nachfrage nach einer Diversifizierung des Wohnungsneubaus in der Ukraine wird nach dem Ende des Krieges neuen Schwung erhalten. Die bisher dominierenden Akteure werden ihre Marktanteile kaum freiwillig aufgeben. Ziel muss es daher sein, den Einfluss des Staates auf die Projektentwickler zu erhöhen, ihre Strategie zu korrigieren und eine Art Bonussystem einzuführen. Ein Instrument könnten Steuererleichterungen für Direktinvestitionen in kommunal verwalteten Mietwohnungsbau sein – oder eine direkte Verpflichtung, eine bestimmte Anzahl zusätzlicher Sozialwohnungen zu bauen und diese gegen eine von der Kommune festgelegte Miete an Berechtigte zu vermieten. Ein neues Politikverständnis ist auch für alle Strategien und Methoden erforderlich, die den Wohnungsbau in der Ukraine nach dem Krieg reformieren sollen. Unterstützung erwartet Stadtforscher Anisimov dabei vor allem von anderen westlichen Ländern: »Bislang ging es in der Ukraine nach sowjetischem Vorbild immer um den vermeintlich richtigen Plan für die ehemals staatlichen, jetzt privaten Bauherren. Über die Planungsprozesse, den Wert des Bodens, die Wohnungspolitik oder eine klimafreundliche Stadtgestaltung wurde wenig diskutiert. Die internationale Zusammenarbeit kann der Ukraine helfen, anders zu planen und ihre Städte auf nachhaltige und demokratische Weise umzubauen.« 

Das Winnyzja-Modell 

Einer der sichtbarsten Ansätze zur Bewältigung der Wohnungskrise verfolgt die Stadt Winnyzja. Die strategisch wichtige Stadt zwischen Lwiw und Kiew brachte ihre eigene Verwaltung mit internationalen Akteuren wie etwa der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (giz) und der IBA Stuttgart zusammen. Das Denklabor konzentriert sich auf Modelle für erschwinglichen Wohnraum, wobei Mieten und Kaufen gleichermaßen betrachtet werden. Daher besteht die Aufgabe darin, »Lösungen für die Bereitstellung neuer und die Erneuerung bestehender Wohnungen zu finden, Baugrund für erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, integrative Nachbarschaften in Partnerschaft mit den Bürgern zu entwickeln und Wohnungsbauprogramme dort einzurichten, wo es noch keine gibt«, wie es Nazar Kovalenko vom Institut für Raumentwicklung in Winnyzja beschreibt. Gerade erst stellten lokale Architekten ein kommunales Wohngebäude fertig, das den Käufern für einen Quadratmeterpreis von 350 Euro die Schaffung von Immobilieneigentum ermöglicht. Nun sind Baugruppen- und Genossenschaftsmodelle in der Planung. Nicht nur in Winnyzja sammelt die Kommune sozialpolitische Erfahrung im Schnellverfahren. Der Krieg hat inzwischen über ein Drittel der Bevölkerung zur Flucht gezwungen und die Wohnungskrise in der Ukraine dramatisch verschärft. Was deshalb im Moment nicht gefragt ist, sind internationale Entwürfe für extravagante Grundrisse. Was dem Immobilienmarkt derzeit fehlt, sind Strategien für alternative Wohnmodelle. Dass dabei klimapolitische Themen wie zirkuläres Bauen oder erneuerbare Energien gleich mitgedacht werden können, dürfte die Ukraine zu einem Vorreiter der ressourcenschonenden Architektur machen. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.