Nach 31 Jahren wird Spanien 2022 erneut Gastland der Frankfurter Buchmesse. Das deutsche Lesepublikum hat vom Land Spanien eine sehr selektive, um nicht zu sagen exotische Vorstellung. Sie bezieht sich zunächst auf das Urlaubsland mit den schönen Stränden und bei der Literatur auf die Klassiker wie Miguel de Cervantes, Carlos Ruiz Zafón, Javier Marías, Federico García Lorca. Dabei gibt es so viel neue Autorinnen und Autoren zu entdecken. Die Frankfurter Buchmesse bietet eine große Chance, Klischeevorstellungen und Missverständnisse auszuräumen und durch Übersetzungen die Literaturen und ihre Gesellschaften gegenseitig zu erfahren. In Vorbereitung auf den Gastauftritt sind bereits mehr als 300 Titel ins Deutsche übersetzt worden, in diesem Jahr werden es weitere 100 Titel sein. Aber Deutsch liegt immer noch weit hinter Englisch und Französisch. Übersetzungen aus dem Deutschen ins Spanische werden in den Programmen des Goethe-Instituts gefördert. Außerdem gibt es mehrere Projekte mit direktem Bezug zur Buchmesse, so z. B. der Literatur-Podcast in spanischer Sprache und neue Übersetzungsresidenzen. Zugleich ist die Kultur des Landes auch durch die Vielzahl regionaler Sprachen geprägt, darunter Katalanisch, Galicisch und Baskisch mit eigenen Literaturen. Rund 20 Prozent der im letzten Jahr veröffentlichten Titel entfallen auf diese Sprachen. Insgesamt erschienen im letzten Jahr 75.000 neue Titel in Spanien. Die Pandemie bescherte dem spanischen Buchmarkt einen anhaltenden Boom. Auch im ersten Quartal 2022 wuchs der Umsatz um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Damit steht die Buchbranche an der Spitze der Kulturindustrie in Spanien.

Es lohnt sich, beide Gesellschaften näher zu betrachten, denn überraschenderweise ähneln sie sich viel stärker. Die Kulturen sind in beiden Ländern sehr stark regional geprägt, wenn auch aufgrund unterschiedlicher historischer Prozesse. In Deutschland war die Kultur das einigende Band gegenüber den vielen zersplitterten politischen Territorien. Mit der Bildung des Deutschen Reiches blieb die Zuständigkeit der Länder erhalten. Nur zur Zeit des Nationalsozialismus stärkte man die Idee des Zentralstaates. Noch heute ist der Bezug für den Umgang mit Kultur weniger die Nation als vielmehr die Region oder die Stadt. Das macht andererseits den kulturellen Reichtum aus.

Spanien hat einen anderen Weg der Staatenbildung genommen, den der frühen Einigungsprozesse vom Vielvölkerstaat zum einheitlichen Reich bis hin zum Franco-Regime, das durch jahrzehntelange Unterdrückung Regionalismus und Sprachen unterdrückte. Erst mit der Rückkehr der Demokratie wurde auch die Regionalisierung wieder eine staatliche Struktur.

Der starke regionale Bezug spiegelt sich in Spanien und Deutschland in der Kulturfinanzierung wider. Der spanische Staat trägt 15 Prozent zur Förderung bei, die Kommunen 55  Prozent und die Regionen 30  Prozent. In Deutschland finanziert der Bund knapp 15  Prozent, die Kommunen 45  Prozent und die Länder 40  Prozent. Das Fundament der Kulturfinanzierung liegt also bei Kommunen und Regionen. Die Finanzierungsverfahren haben in beiden Ländern eher einen partikulären als einen kooperativen Föderalismus befördert, es besteht eher ein Konkurrenzverhalten als ein Miteinander. Trotz oder wegen dieser getrennten Zuständigkeiten verfügen beide Länder über ein vielfältiges kulturelles Erscheinungsbild, das die heterogenen Identitäten abbildet. Vor dem Hintergrund der Krise der Kommunalfinanzen, besonders durch die Wirtschaftskrise und die Auswirkungen der Coronapandemie, müssen jedoch Prozesse der Neuausrichtung diskutiert werden.

Die Kultur gilt in Spanien als Grundrecht. Wegen der erheblichen wirtschaftlichen Einbrüche wurde sie empfindlich durch einen harten Sparkurs getroffen. Der reduzierte Steuersatz für Kultur wurde aufgehoben, was zu großen Einbußen bei den Besucherzahlen führte. Gleichzeitig wurden die öffentlichen Zuwendungen beim nationalen Kultusministerium und bei den Kulturbehörden der Autonomien drastisch gekürzt. Auch die Bibliotheken in Spanien sind in den letzten Jahren von den Kürzungen deutlich getroffen worden. Auch wenn aufgrund der Krisen die großen anspruchsvollen ausländischen Gastspiele und Koproduktionen reduziert werden mussten, so bleiben sie nach wie vor ein wichtiges Element für das Kulturleben. Das gilt besonders für die deutsch-spanischen Beziehungen mit den Kulturmetropolen Berlin, Hamburg, Frankfurt, Stuttgart und München. Europa ist positiv besetzt. Spanien kann viel zum europäischen Dialog beitragen.

Auffallend ist, dass in den Umbruchzeiten die zeitgenössischen politischen Themen in allen Kultursparten eine starke Rolle spielen und sich inzwischen eine lebendige Off-Szene neben den traditionellen Strukturen etabliert hat. Genutzt werden ehemalige Industrieanlagen in Madrid, Barcelona oder San Sebastián für spannende Festivals und Ausstellungen. Ein aktuelles Bild der spanischen Gesellschaft spiegelt sich in der zeitgenössischen Literatur mit neuen jungen Autorinnen und Autoren: »Lectura fácil« von Cristina Morales, ein Manifest für die Verlierer der Gesellschaft, »Las Maravillas« von Elena Medel über die ökonomische Enttäuschung der jüngeren Generation oder »Panza de Burro« von Andrea Abreu über das »entleerte Spanien« außerhalb der Städte. Aber auch Themen wie die eigene Vergangenheitsbewältigung, einschließlich Kolonialismus und die Entwicklung einer pluralen Gesellschaft, spielen eine Rolle. Die Frankfurter Buchmesse ist eine Chance, das heutige Spanien kennenzulernen und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Die Gäste aus Spanien bringen eindrucksvolle und zum Teil überraschende Geschenke mit.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.