Andriy May, Theaterregisseur und Kurator, kommt aus Cherson, der Hauptstadt der gleichnamigen Region im Südosten der Ukraine, die seit Februar 2022 von russischen Truppen besetzt und seit September via Scheinreferendum von Russland annektiert wurde. Mit Sohn und Mutter lebt er seit März in Potsdam und ist seitdem auch mit mehreren Theaterprojekten in Deutschland unterwegs. Lautes Sirenengeheul, auch wenn es nur ein probender Chor imitiert, lassen ihn noch immer zittern.  

Peggy Lohse: Sie stammen aus Cherson, studierten in Moskau, lebten lange in Kiew, seit der Flucht aus Cherson sind Sie nun in Potsdam. Sie arbeiten viel zum Thema Identität und Krieg. Wie beschreiben Sie Ihre eigene Identität? 

Andriy May: Mental und emotional bin ich Ukrainer, ohne Zweifel. Als solcher arbeite ich auch hier in Deutschland. Ich habe schon früher beispielsweise in Stuttgart ein Stück inszeniert, wo es um den Abschied von der sowjetischen Vergangenheit ging, auch um das Verhältnis zu Russland als Überbleibsel der UdSSR. 

Für mich besteht Identität aus vielen Puzzleteilen: der Nationalität, der Tätigkeit und der Rolle im Leben. Ich bin der Vater meines Sohnes und der Sohn meiner Mutter, die beide meine Hilfe brauchen. Ich bin Regisseur, Kurator und Direktor zweier unabhängiger Theaterzentren. All das ist meine Identität, die ich selbst gewählt habe. 

Mein Urgroßvater war Deutscher, mein Nachname ist auch deutsch − wie der Mai. Zur Euromaidan-Zeit überredete mich die Leiterin des Goethe-Instituts in Kiew mit diesem Argument, Deutsch zu lernen. Ich arbeitete damals dort am Iwan-Franko-Theater, auf der Straße wurden Menschen erschossen. Das war eine schizophrene Situation. Dann lud sie mich zum Intensivkurs nach Berlin ein. 

Welche Rolle spielen Sprachen für Ihr Selbstverständnis? 

Ich komme aus einer russischsprachigen Familie. Leider lebt nur noch meine Mutter, die aber seit ihrem dritten Infarkt gar nicht mehr spricht. Auch als wir in Kiew lebten, sprachen wir zu Hause Russisch. Mit meinem Sohn wollte ich nur Ukrainisch sprechen, meine Frau blieb bei Russisch. Seit dem Tod seiner Mutter vor drei Jahren spricht mein Sohn nur noch Ukrainisch, ausnahmslos. Das war sicher eine Art psychologische Schutzreaktion. In bilingualen Situationen sprach ich auch nach dem Maidan noch selten Russisch. Bis zum 24. Februar 2022 − jetzt nicht mehr. Wir sind alle traumatisiert. 

In vielen Ihrer Theaterstücke arbeiten Sie mit ukrainischen Jugendlichen zusammen. Wie unterscheidet sich diese Generation?  

Sie sind vor allem sehr mutig, viel mutiger und freier als meine Generation. Natürlich machen bei meinen Inszenierungen nur diejenigen mit, die sowieso Interesse haben. Aber manche von ihnen fragten doch am Anfang noch schüchtern, ob sie nicht eine Requisite im Stück spielen könnten? Als es dann ans Proben ging, stellten sie sich als tolle Performende heraus! 

Wie, wann, wo und wie oft hat Sie der russische Krieg gegen die Ukraine erreicht? Wie konnten Sie sich in Sicherheit bringen? 

Als ich am 24. Februar in Cherson aus dem Fenster schaute, fuhren die Trolleybusse noch. Ich dachte: Solange Busse fahren, ist nicht Krieg. Dann berichtete mir ein Bekannter aus Mykolajiw von den ersten Angriffen. 

Ich wusste sofort, ich muss weg: wegen meines Sohnes und meiner kranken Mutter. Wir hatten in Cherson kein Auto, also gingen wir zum Bahnhof, konnten sogar noch Tickets für den regulären Zug nach Kiew kaufen. Aber der fuhr nicht. Im Zentrum hörten wir Explosionen. Mein Sohn begann zu weinen, sagte, er wolle noch nicht sterben, er sei noch zu jung. Er ist acht Jahre alt. 

Am nächsten Tag zogen wir in den Schutzraum unterm Theater. Drei Wochen lebten wir dort, gemeinsam mit den Familien von etwa 30 Mitarbeitenden. Wir waren wie eine Kommune: kochten, aßen, tranken zusammen, die Kinder spielten miteinander. Nachts gingen wir auf die Bühne und sangen die Hymne der Ukraine. Aber wir wussten: Draußen stehen russische Militärfahrzeuge, die Stadt war sehr schnell besetzt worden. 

Am 19. März konnten wir wegfahren. Überraschend leicht. Ein Taxifahrer brachte uns für wenig Geld, aber sehr schnell nach Mykolajiw. Meinem Sohn gab ich mein Handy zum Spielen, damit er das Militär und den Beschuss am Straßenrand nicht sieht. Weiter fuhren wir nach Odessa, dann über Moldau nach Deutschland. Ich bin alleinerziehender Vater und Betreuer meiner kranken Mutter. Darum gab es an der Grenze keine Probleme. Der Taxifahrer fuhr wieder zurück. Ein paar Tage später wurde sein Auto beschossen und er getötet. Er hieß auch Andriy.  

Wie hat der Krieg Ihre Arbeit verändert? 

Das Arbeiten zum Thema Krieg ist physisch sehr schwer und anstrengend. Seit dem Maidan 2014 mache ich politisches dokumentarisches Theater. Darin versuche ich, über persönliche Erfahrungsberichte ein neues Verständnis unserer Ukraine zu vermitteln. Begonnen hat das damals mit demStück »Maidantagebücher« am Franko-Theater in Kiew, das wir auch in Hamburg, Wien und am Maxim-Gorki-Theater Berlin zeigten.  

Damals sagte ich mir: Ich kann und will nicht in den Krieg ziehen, um Menschen zu töten. Aber ich kann Theaterstücke im Donbas, über den Krieg im Donbas machen, über die Tragödien, die wir erleben. Für die Menschen in der Ukraine, aber auch für das ausländische Publikum. Das letzte Stück, das ich im November in Cherson inszenierte, zeigte Erfahrungen jener, die aus Donezk fliehen mussten, weil sie dort ihr Zuhause verloren hatten. Es bearbeitete den andauernden Krieg und endete − angesichts der pathetischen Feiern 2021 zum 30. Jahrestag der unabhängigen Ukraine − mit einem wunderschönen Feuerwerk, das sich in Beschuss und Explosionen verwandelte.  

Danach hatte ich mir vorgenommen, endlich wieder ein Stück über die Liebe zu machen: die Oper »Liebestrank« von Gaetano Donizetti. Wegen des russischen Krieges gegen die Ukraine geht das jetzt nicht. Ich finde, ich habe nicht das Recht, jetzt zu anderen Themen zu arbeiten. Auch ich als Regisseur bin wie ein Soldat im Krieg. 

Was ist Ihre Strategie, diese Arbeit trotz der Belastung weiterzuführen? 

Wenn ich arbeite, ist mein Prinzip: »Ich bin jetzt nur Regisseur!« Ich arbeite mit dem Thema und der Wirkung auf die Zuschauer. In diesem Moment lasse ich mich nicht von den Emotionen mitreißen. Ich halte mich an meiner Professionalität fest. 

Wie sieht nun Ihre Arbeit hier im Exil in Deutschland aus?  

Eigentlich gibt es keinen großen Unterschied. Ich suche mir seit jeher meine Themen selbst aus und mache keine Auftragsarbeiten. Als ich ankam, hatte ich schnell Anfragen bis zum Jahresende. Mein nächstes Stück in Köln heißt »Putinprozess« − ein hartes Stück darüber, wie wir letztlich alle Teil der Entwicklungen sind, egal ob in der Ukraine oder hier in Deutschland.  

Für 2023 gibt es auch schon ein Projekt. Weiter werde ich sehen, wie sich der Theatermarkt für mich entwickelt. Außerhalb der Arbeit habe ich viele neue Freunde kennengelernt, Deutsche und Leute aus der Ukraine. Vor allem über die Schule oder auch auf Spielplätzen durch meinen Sohn. Zur ukrainischen Diaspora habe ich wenig Kontakte.  

Wie sehen Sie den möglicherweise bald in Deutschland ankommenden Russen entgegen, die vor der russischen Mobilmachung fliehen? 

Ach, ich treffe auch jetzt schon oft auf Russen! Es gibt sehr viele hier, ich höre sie oft auf der Straße. Die Schule meines Sohnes hat uns vor Kurzem vorgewarnt, dass bald russische Kinder kommen werden. Meinen Sohn hat das schockiert. Jetzt sollen in die Extra-Klasse für ukrainische Kinder auch russische integriert werden – das ist doch verrückt, nicht? 

Was wünschen Sie sich von der deutschen bzw. westlichen Theaterwelt? 

Ich wünsche mir, dass die großen, staatlichen Theater regelmäßig, mindestens einmal im Monat, ukrainische Stücke aufführen und ukrainische Mitwirkende einladen. Am Ende kann es Publikumsgespräche geben, die auch ansprechen, wie es nach Kriegsende weitergehen könnte. Theater könnte da viel Verständnis ermöglichen. Und ich wünsche mir mehr Haltung: Man kann natürlich Stücke russischer Autoren aufführen, sie neu bearbeiten, neue Elemente herausarbeiten. Aber die Aussage »Das ist eben ein toller Text« allein ist für mich kein Argument, denn dann reißt man den Text aus dem Kontext. Das Deutsche Theater in Berlin zeigt gerade Anton Tschechows »Platonow«, inszeniert von einem russischen Regisseur und einem Dramaturgen des Moskauer »Theaters der Nation«, das jüngst im russisch besetzten Mariupol auftrat. Wir müssen verstehen, dass das Theater in Russland Teil der dortigen imperialen Propagandamaschinerie ist, darum auch staatlich gefördert wird.  

Es gibt keinen Text ohne Kontext − erst recht nicht im Theater. Theater findet immer auch im Kontext der Zeit statt, wann es aufgeführt wird.  

Welche Funktion erfüllt das Theater insgesamt in diesen brutalen Kriegszeiten? 

Das Theater innerhalb der Ukraineerzeugt ein besonderes Gemeinschaftsgefühl. Im Theater sehen und spüren die Menschen: »Wir sind zusammen. Wir leben!« Außerdem erfüllt es eine Art therapeutische Funktion: Ein Theaterabend kann das Überleben erleichtern, die zugeschnürte Kehle öffnen, Mut und Zuversicht stärken.  

Im Ausland muss das ukrainische Theater der Welt zeigen, was in der Ukraine passiert. Dieser Krieg darf nicht zur Gewohnheit werden. Mit dem Theater können wir verhindern, dass wir der Welt gleichgültig werden. 

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.