Anna Artwińska studierte Polonistik, Journalismus und Slavistik in Deutschland und Polen. Heute ist sie Juniorprofessorin an der Universität Leipzig. Tanja Dückers spricht mit ihr über den Stand der Osteuropaforschung und die Wahrnehmung ukrainischer Kultur in Deutschland. 

Tanja Dückers: In Deutschland und Europa wird viel darüber gesprochen, dass man angesichts des Krieges in der Ukraine russische Künstler nicht mehr einladen soll. Was halten Sie davon?  

Anna Artwińska: Das ist eine komplizierte Frage. Ich habe mich damit auf universitärer Ebene befasst: Sollen wir die Programme mit Russland auf Eis legen? Sollen wir Kontakte mit den russischen Kolleginnen und Kollegen abbrechen? Fast alle Fachverbände mit einem Osteuropabezug haben sich nach dem 24.  Februar 2022 erst mal dazu entschieden, als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Es gab aber auch Diskussionen und Meinungsunterschiede zwischen den Vertreterinnen und Vertretern des Faches.

Um was ging der Streit? 

Es gab Kolleginnen und Kollegen, die meinten, dass man im Einzelfall prüfen solle, ob Wissenschaftler aus Russland noch hierherkommen können und dass man sich als Osteuropaforscher eine pauschale Ablehnung einfach nicht erlauben darf. Ich würde so sagen: Man hat als Hochschullehrer immer die Pflicht, über die Folgen und Konsequenzen einer Kooperation nachzudenken. Es ist also gut, dass man so viel über den zukünftigen Umgang mit der russischen Forschungslandschaft nachdenkt. Gleichzeitig würde ich behaupten, dass man die russische Kultur als solche nicht bestrafen soll. Es wäre kontraproduktiv, wenn man jetzt z. B. die russische Literatur in Deutschland plötzlich nicht mehr auflegen oder wenn man das Lehramt Russisch einstellen würde. Bei der mehr als berechtigten Kritik der russischen Politik muss auch stets bedacht werden, dass einige russische Künstlerinnen und Wissenschaftler den offenen Brief gegen den Krieg unterschrieben haben. Und das bedeutet viel mehr als jegliches Wort, was ich hier in Deutschland gegen den russischen Angriff auf die Ukraine sage. Die proukrainische Haltung der Menschen aus Russland gilt es zu würdigen und respektieren. Aus der Perspektive der Universität ist somit wichtig, dass man die Hilfe für geflüchtete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Ukraine, aber auch aus Russland und aus Belarus organisiert. Und dennoch: Die menschlichen Energien sind nicht grenzenlos, unsere Aufmerksamkeit sollte deswegen derzeit auf die Ukraine und nicht auf Russland gerichtet werden. 

Oft habe ich den Eindruck, dass in Westeuropa nicht so ein differenziertes Bewusstsein dafür besteht, was die unterschiedlichen Kulturen von Russland und der Ukraine und ihre Literaturen angeht. 

Das ist nachvollziehbar. Auch die Osteuropaforschung hat sich leider lange als Forschung der russischen Geschichte, Kultur und Literatur verstanden. Die Russistik ist das innerhalb der Slawistik am meisten frequentierte Fach. An vielen deutschen Universitäten ist die Ostslawistik de facto eine Russistik. Die Westslawistik ist etwas emanzipierter; man kann immerhin in Deutschland Polonistik oder Bohemistik studieren. Bei Ukrainistik ist das eben bis auf kleine Ausnahmen nicht der Fall. Doch jetzt kommen Studierende zu uns und wollen den Schwerpunkt des Studiums auf ukrainische oder belarussische Sprache und Literatur legen. Dann zeigt sich, dass solche Konstellationen curricular nicht verankert sind und dass man keine Fachkräfte für die Ukrainistik hat. Seit Wochen denke ich darüber nach, wie man die Ukraine-Studien in Leipzig ausbauen könnte. Aber eigentlich ist es traurig, dass all dies erst jetzt zu Bewusstsein kommt. Die Ukraine ist das zweitgrößte Land Europas.  

Zumindest wenn ich jetzt aus dem etwas engeren Bereich des Literaturbetriebs spreche, ist mir doch aufgefallen, dass in den letzten zehn bis 15  Jahren Autorinnen und Autoren aus der Ukraine verstärkt wahrgenommen werden – wie z. B. Juri Andruchowytsch, Oksana Sabuschko oder Serhij Zhadan. 

Das ist richtig. Aber ich glaube, die ukrainischen Autorinnen und Autoren merken, dass sie weder zum Kanon an den deutschen Universitäten noch zum Kanon des deutschen Bürgertums gehören. Sie werden zwar übersetzt und publiziert, aber das ist trotzdem nicht gerade Mainstream. Von der russischen Literatur kann man das Gegenteil behaupten.  

Wie ist die Situation in Ihrem Heimatland Polen? 

Aus meiner polnischen Perspektive stellen sich die Dinge anders dar: Ukrainische Literatur ist in Polen wirklich gut bekannt, sie würde niemals mit russischer verwechselt. Da ist Russland als Feindbild im polnischen historischen Gedächtnis zu stark verankert. Dafür ist der Blick der polnischen Kultur auf die Ukraine leider immer noch durch die imperiale Vergangenheit gefärbt. In polnischer Selbstwahrnehmung gehört Polen zweifelsohne zu Europa, ist gar nicht mit Russland verwandt, und die Ukraine fungiert als ein ehemals polnisches Grenzland, als eine ehemals polnische Peripherie. Das Verhältnis ist nicht symmetrisch. Das ist jedoch eine andere Geschichte. 

Warum ist ein so großes Land wie die Ukraine »übersehen« worden? Liegt es daran, dass die Sowjetunion und dann später Russland als das zentrale Opfer des Zweiten Weltkriegs angesehen wurde? Wenn man sich näher damit befasst, weiß man, dass die Ukraine, Polen und Belarus bezogen auf die Bevölkerungsgröße einen höheren Blutzoll geleistet haben als Russland.  

Das ist korrekt. Wenn man z. B. über die Orte der Shoah nachdenkt, dann kommt äußerst selten Babyn Jar vor. Wer außer Fachmenschen weiß etwas darüber, was mit den Juden in Babyn Jar passiert ist? Dieser Ort ist im europäischen kollektiven Gedächtnis zu schwach verankert. Es ist generell kaum bekannt, dass das Gebiet der heutigen Ukraine bis zur Shoah zu den wichtigsten Siedlungsgebieten der osteuropäischen Juden gehörte. 

Das Problem des »Übersehens« liegt möglicherweise darin, dass es hierzulande nur ein geringes Interesse am östlichen Europa da ist und dass die Ukraine als Teil des russischen bzw. sowjetischen Imperiums gesehen wird. Es fehlt am Bewusstsein, dass die Sowjetunion nicht mit Russland gleichgesetzt werden kann; man differenziert zu wenig zwischen den postsowjetischen Nachfolgestaaten. Das Wissen über die Entwicklung der ukrainischen Geschichte und Kultur ist nicht vorhanden. Nehmen wir als Beispiel die westliche Bewertung des ukrainischen Nationalismus. Es ist korrekt, ihn zu kritisieren, diese Kritik kann jedoch nicht kontextlos geführt werden. Der Prozess der Nation Building fand nämlich in der Ukraine im Vergleich mit anderen europäischen Kulturen später statt und ist bis heute nicht abgeschlossen.
Solche Konzepte wie Nation, Nationalismus, Patriotismus oder die kollektive Identität werden aus westlicher Perspektive in der Ukraine unkritisch verwendet. Dabei geht es hier um unterschiedliche historische Erfahrungen und verschiedene Zeitdimensionen. Das läuft nicht parallel. Und ich glaube, das schreckt vielleicht ein bisschen ab. 

Kann man sagen, dass es trotz all der Fremdherrschaften eine kohärente ukrainische Literatur und Kultur gegeben hat? 

Ich würde sagen, dass es auf jeden Fall ein roter Faden ist, dieses sehr subtile Reagieren auf die Fremdherrschaft und eine besondere Sensibilität darauf, dass man sich als Nation immer aufs Neue behaupten muss, in Bezug auf verschiedene Kulturräume, Sprachen, politische Systeme. Das bleibt nicht ohne Einfluss, denn Literatur entsteht nicht in einem leeren Raum. Schon bei den ukrainischen Romantikern findet man eine Auseinandersetzung mit der eigenen subalternen Kondition. Die ukrainischen Autoren wissen, dass sie sich einen Raum zum Sprechen schaffen müssen. Das ist ein festes Motiv und zieht sich in verschiedenen Epochen und Ästhetiken durch. Das machen Romantiker anders als beispielweise Autorinnen und Autoren der Avantgarde, klar. Aber der Grundgedanke, der Grundtenor bleibt. Dennoch würde ich die ukrainische Literatur nicht darauf beschränken wollen, es gibt natürlich auch andere Themen und andere Perspektiven. 

Drückt sich darin eine Art literarische Identität der Ukraine aus? 

Auf jeden Fall. In der Literatur des 19. Jahrhunderts, nehmen wir Iwan Franko, gibt es sehr viele Lieder über die Schönheit der ukrainischen Landschaft. Und diese Beschreibung der Schönheit ist immer mit einem Gefühl des Verlusts verbunden. Die zeitgenössische ukrainische Autorin Oksana Sabuschko spielt wiederrum gerne mit Minderwertigkeitskomplexen und verwendet in ihren Texten eine selbst-orientalisierende Perspektive. Das ist auch eine Art Reaktion darauf, dass man nicht wahrgenommen wird.  

Vielen Dank.  

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.