D ie bisherigen Kriegszerstörungen und der bevorstehende Wiederaufbau des Wohnungsbestands in der Ukraine offenbaren baupolitische Versäumnisse der vergangenen drei Jahrzehnte. Die sieben Millionen Binnenflüchtlinge, die bis August 2022 aufgrund der Angriffe durch die russische Armee fliehen mussten, belasten einen Wohnungsmarkt, der ausschließlich privatwirtschaftlich organisiert ist und dem Staat keine Regulierung der Wohnraumverteilung erlaubt. Die wenigen Instrumente und Programme zur Schaffung von sozial verträglichen Wohnflächen erweisen sich auch unter Kriegsrecht als unbrauchbar. Das Notfallprogramm zur langfristigen Behausung von Vertriebenen, das schon 2014 für die 1,5 Millionen Flüchtlinge aus der Ostukraine und der Krim ins Leben gerufen wurde, hat es bis heute nicht vermocht, angemessen die Bedürfnisse neuer Wohnungssuchender zu befriedigen. Der Großteil der bereits vor acht Jahren heimatlos gewordenen Bevölkerung lebt bis heute in temporären Unterkünften. Den Bedarf an Wohnraum für Vertriebene aus den von der russischen Armee seit Februar 2022 besetzten Gebieten können die Kommunen und Gebietskörperschaften kaum bewältigen. Die Unterbringung erfolgt weitgehend auf privatwirtschaftlicher eben oder durch Nichtregierungsorganisationen.
Krieg macht Reformbedarf sichtbar
Um in den kommenden Jahren die Integration der Ukraine in die Europäische Union zu ermöglichen, wird sich auch der Wohnungsbau verändern müssen. Die Reformen betreffen ordnungspolitische Themenfelder wie das Bodenrecht, darüber hinaus eine Förderung neuer Akteure im Wohnungsbau in Konkurrenz zu den marktbestimmenden Oligarchen und eine neue Wohnkultur, die nicht nur die Monostruktur des Eigentums im vielgeschossigen Investorenprojekt bedient. Käufer von Geschosswohnungen erwerben in der Ukraine nur ein Nutzungsrecht am Boden – aber keinen Grundstücksanteil, der für einen Bankkredit beliehen werden könnte. Für Finanzierungsmodelle mit 20-jähriger Amortisation gibt es in der Ukraine keine Übung. Dieses System erschwert etwa jungen Familien den Zugang zu Wohneigentum, wobei es gleichzeitig an Alternativen auf dem Mietwohnungsmarkt fehlt. Die Förderung von Genossenschaftsmodellen und die Schaffung eines kommunalen Wohnungsbaus – das wesentliche Element einer sozialen Marktwirtschaft – wird sich in den kommenden Jahren zu einer wichtigen Säule der Sozial- und Baupolitik entwickeln. Die gegenwärtige Krise bietet deshalb die einmalige Chance, den Wohnungsmarkt nach dem Krieg zu diversifizieren und sich von postkolonialen Strukturen aus der Sowjetzeit zu emanzipieren. Dies setzt aber auch ein Verständnis voraus, das den Staat von der Erwartungshaltung seiner Bürger entbindet, kostenlosen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
Die Ukraine gehört zu den Staaten der ehemaligen sozialistischen Welt, in denen der staatliche Wohnungsbestand Anfang der 1990er Jahre an die Bewohner übertragen und privatisiert wurde. Allerdings wurde in der Ukraine versäumt, den neuen Immobilieneigentümern neben der Wohnung auch einen Grundstücksanteil zu übertragen und diesen im Kataster einzutragen. Eigentümer blieb der Staat, vertreten durch die Kommunen. Hinzu kam, dass der Staat keine Regelung über das Sondereigentum der Hausgemeinschaft traf. Der Bauunterhalt etwa von Treppenhaus, Dachfläche und technischer Infrastruktur fand – wenn überhaupt – nur durch Eigeninitiative der Bewohner statt. An den meisten Wohnbauten der Sowjetzeit zeigt sich die radikale Deregulierung bis heute in Form eines Patchworks von Wohnraumerweiterungen auf Balkonen oder Fassadensanierungen mit dem Ziel einer zusätzlichen Wärmedämmung der Außenwände. Oft wurden diese Basteleien nicht fachgerecht ausgeführt, sodass Bauschäden auch an der Originalsubstanz die Folge sind.
Die kostenlose Übertragung von Immobilieneigentum und die völlige Abwesenheit staatlicher Kontrolle hat auch in der Ukraine zu einem ambivalenten Verhältnis zur Kultur des Wohnens geführt. Erst seit wenigen Jahren organisieren sich Wohnungseigentümer in privaten Gesellschaften, die mit dem ukrainischen Akronym OSBB bezeichnet werden, um gemeinsame Belange des Hauses zu regeln.
Die grundstücksrechtlichen Versäumnisse in den frühen 1990er Jahren beförderten ein System, in dem der Wohnungsneubau nur von großen Entwicklungsgesellschaften übernommen werden konnte, die für ihre Neubauprojekte mit dem Staat über Nutzungsrechte an Grund und Boden verhandelten. In der Ukraine führte das zu einem weitverbreiten Bauträgermodell, bei dem der Käufer vor Baubeginn bis zu 50 Prozent des Kaufpreises anzahlt und den Restbetrag in Raten an den Projektentwickler begleicht. Der Bauträger wird selbst zur Bank und sichert sich die Wohnung bei Zahlungsausfall für sich. Das wirtschaftliche Risiko liegt damit komplett beim Käufer, der je nach finanzieller Potenz seine Altwohnung auf dem Sekundärmarkt verkauft und den Erlös in eine noch nicht existente Neubauwohnung investiert. Bis heute liegt die Eigentumsquote in der Ukraine zwar bei über 85 Prozent. Aber die dramatische Überalterung des Wohnungsbestands und dessen fehlende fachgerechte Instandhaltung wird innerhalb der nächsten Generation dazu führen, dass die sinkenden Verkaufserlöse der wertgeminderten Altbauwohnung einen immer kleineren Anteil bei der Finanzierung der Neubauwohnung ausmachen werden. Steigende Baupreise in der Ukraine werden das gängige Finanzierungsmodell der vergangenen 30 Jahre nach der Auflösung der UdSSR infrage stellen.
Seit 1991 hat sich der Wohnungsbestand in der Ukraine lediglich um 7,5 Prozent erhöht. Selbst während der zehnjährigen sogenannten Stagnationsperiode zwischen 1981 uns 1990 entstanden knapp elf Prozent des heutigen Wohnungsbestands. Auf den Zeitraum zwischen 1971 und 1980 entfallen 16 Prozent. Das heißt, dass zwei Drittel des Wohnungsbestands das Alter eines halben Jahrhunderts überschritten haben. In weniger als zehn Jahren stellen sogar nur noch 20 Prozent des mehrgeschossigen Wohnbaubestands überhaupt noch einen volkswirtschaftlichen Wert dar. Nach Angaben des staatlichen Statistikkomitees der Ukraine zählte der baufällige Wohnraum Ende 2021 bereits 4,3 Millionen Quadratmeter.Hinzu kommen kriegszerstörte Wohnungen im Zeitraum 24. Februar bis 30. Juni 2022 mit einer Gesamtfläche von 15 Millionen Quadratmetern. Nach Angaben der Vorsitzenden der derzeitigen Regierungspartei »Diener des Volkes«, Olena Schuljak, sind von diesen Zerstörungen unmittelbar 800.000 Menschen betroffen. Für den europäischen Flächenstaat mit einer Bevölkerung von über 40 Millionen Menschen stellt die Erneuerung des Wohnungsbestands daher weit mehr als eine Generationenaufgabe dar.
Eigentümer- statt Mietermarkt
Die sowjetische Wohnungsbaupolitik erreichte einen jährlichen Zuwachs von 0,4 Quadratmetern pro Bürger, was bei einer Bevölkerung von 240 Millionen Menschen etwa 100 Millionen Quadratmetern entsprach – wobei dieser Wert nur zentral erfasst und erst nach parteipolitischer Zustimmung publiziert werden durfte. Dass aber die übliche Wartezeit auf einer Neubauwohnung zehn bis 20 Jahre betrug, mag als Indiz für die Abweichung der tatsächlichen Zahlen von den offiziellen Statistiken dienen. Nichtsdestotrotz bleiben die vom ukrainischen Statistikamt erfassten Jahreswerte von 0,2 Quadratmetern Wohnungsneubau pro Einwohner deutlich unter dem erforderlichen Niveau. In einer freien Wohnungswirtschaft und der üblichen Abschreibung des Immobilienwerts binnen 50 Jahre gilt ein Wert von zwei Prozent als Richtmaß für das jährliche Neubauvolumen. Bei einem Gesamtbestand von knapp über einer Milliarde Quadratmetern Wohnfläche entspräche dies einem jährlichen Bedarf von 20 Millionen Quadratmetern. Tatsächlich betrug die durchschnittliche Jahresproduktion seit 2010 mit zehn Millionen Quadratmetern nur die Hälfte. Diese Unterversorgung des Wohnungsmarkts geht auch auf die Abwesenheit des Staates bzw. der Kommunen auf dem Wohnungsmarkt zurück. 99 Prozent des Wohnungsbaus in der Ukraine wird Stand 2012 von privaten Bauträgern errichtet. Seit zehn Jahren hat sich dieser Wert nicht wesentlich verändert. Der soziale Wohnungsbau in städtischer Verantwortung, der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten günstige Mieten ermöglicht, spielt keine Rolle.
Der ukrainische Immobilienmarkt war seit der Einführung der Marktwirtschaft nach 1991 zunehmend von turbokapitalistischen Strukturen geprägt. Profite von 30 Prozent und mehr waren nach Einführung der Griwna 1996 infolge einer Hyperflation keine Ausnahme, wenngleich die Rubelkrise 1997 und die globale Finanzkrise 2008 zu einer deutlichen Abkühlung auf dem überhitzten Wohnungsmarkt führte. Die Renditeerwartung der Projektentwickler liegt auch heute noch bei über 20 Prozent, und selbst die privaten Käufer von nicht ausgebauten Wohneinheiten gehen von einer dreifach höheren Rendite als in vergleichbaren westlichen Immobilienmärkten aus. Die Kunden erhalten in Verkaufsprospekten der Developer genaue Übersichten zu monatlichen Zinszahlungen und Tilgungen. Während die Zinsen mit bis zu zehn Prozent deutlich über dem europäischen Niveau liegen, gelten Tilgungsziele von fünf bis sieben Jahre als üblich. Dies führt in der gesamten Immobilienbranche zu einer Dynamik, bei der das eingesetzte Geld schnellstmöglich rückgeführt werden soll. Das in Charkiw ansässige Wohnungsbauunternehmen Worobjowy Gory warb im Herbst 2021 noch mit einer Rendite von 16 Prozent für die Fremdvermietung einer ausgebauten und möblierten Wohnung. Sollte eine solche Immobilie den Angriffen der russischen Armee trotzen, läge die Rendite in der zweitgrößten ukrainischen Stadt nach Kriegsende wohl noch höher. Gegenwärtige Schätzungen gehen in Charkiw von einem Viertel unbewohnbarer Wohnungen aus. Alles spekulativ – in beide Richtungen.