Die aus Lwiw stammende Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin Natalka Sniadanko gelang über Umwege die Flucht nach Deutschland. Derzeit lebt sie mit ihren Kindern in Marbach und arbeitet dort am Deutschen Literaturarchiv. Zahlreiche ihrer Bücher sind auch auf Deutsch erschienen, so zuletzt 2021 »Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde«. Sniadanko übersetzt unter anderem vom Deutschen ins Ukrainische – darunter Franz Kafka und Günter Grass. Tanja Dückers spricht mit ihr über ihre Flucht, die Arbeit in Deutschland, die ukrainische Sprache, das Verhältnis zu Russland und mehr.

Tanja Dückers: Frau Sniadanko, Sie sind Ende Februar über Polen und Ungarn nach Deutschland gekommen. Wie lief das ab?

Natalka Sniadanko: Das war alles purer Zufall. Wir wollten Freunde in Krakau besuchen und fuhren am 19. Februar nach Polen. Die ganze Familie, mein Mann, unsere beiden Kinder und ich. Aber an der Grenze stellte sich heraus, dass der Impfstoff, mit dem mein Sohn geimpft wurde, in Polen nicht anerkannt wird. Trotz gültiger negativer Tests wurde mein Sohn für eine Woche in Quarantäne geschickt. So sind wir zu dritt in Krakau geblieben, mein Mann fuhr am 21. Februar wieder zurück in die Ukraine und wollte uns nach der Quarantäne abholen. Am 24. begann der Krieg.

Das ist eine absurde Geschichte.

In der Tat. Noch am 23. Februar schrieb mir eine Bekannte, eine in Budapest lebende Übersetzerin: »Mein Mann und ich fahren den ganzen März über weg, willst du nicht in unserer Wohnung Urlaub machen und die Blumen gießen?« Am nächsten Tag war die Antwort auf die Frage schon klar, und so sind wir nach Budapest gefahren. Zuerst dachte ich, okay, meine Reise endet hier. Bis Ende März wird alles wieder in Ordnung sein in der Ukraine. Aber nach anderthalb Wochen Krieg war ich mir nicht mehr so sicher. Es meldeten sich mehr und mehr Bekannte, mit denen ich seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Alle wollten helfen und informierten mich über Möglichkeiten, einen Aufenthalt im Ausland zu organisieren. Und da kam mir eine andere Übersetzerin zur Hilfe, Claudia Dathe, die seit Jahren aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt. Sie meinte: »In Marbach soll es ein neues Stipendium geben, ein ›Artist-in-Residence‹-Programm, für Schriftsteller. Es könnte für dich sehr gut passen.« Und sie hatte recht. Innerhalb von wenigen Stunden wurde alles geregelt, und ich fuhr mit meinen Kindern nach Marbach am Neckar. Es geht uns sehr gut hier. Wir werden betreut und freundlich aufgenommen. Mein Sohn studiert bereits an der Universität Stuttgart. Meine Tochter geht ans Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach. Und ich darf sogar mit Originaldokumenten im Deutschen Literaturarchiv arbeiten.

Und wie geht es nun Ihrem Mann in der Ukraine?

Mein Mann war von Kriegsbeginn an entschlossen, sich freiwillig zu melden, und das tat er auch, trotz gesundheitlicher und anderer Probleme. Jetzt ist er an der Front.

Wo ist Ihr Mann genau? Haben Ihre Kinder und Sie regelmäßig mit ihm Kontakt?

Mein Mann ist zum Glück nicht direkt an den gefährlichsten Orten, sondern derzeit mit Lieferungen und Reparaturen beschäftigt. Ja, wir sind in Kontakt.

Eine äußerst belastende Situation für alle.

So ist es.

Ihr Deutsch ist wirklich sehr gut. Dabei ist es lange her, dass Sie in Freiburg studiert haben. Haben Sie denn als Schriftstellerin auch literarische Termine in Deutschland?

Ja, ich habe viele Pressetermine und Lesungen. Ich kann natürlich nicht alles wahrnehmen, da die Nachfrage so groß ist. Und außerdem bin ich – wie auch viele andere ukrainische Schriftsteller – der Meinung, dass die Sanktionen gegen Russland bis Kriegsende auch im Kulturbetrieb eingeführt werden müssen, nicht nur in Wirtschaft, Sport oder Politik. Es erscheint in der kulturellen Sphäre sogar besonders wichtig, da dort oft Kriegspropaganda betrieben wird. So sage ich alle Veranstaltungen ab, bei denen ich gemeinsam mit russischen Autoren diskutieren soll.

Es wurde hier in Deutschland aber durchaus schon vonseiten der Veranstalter Engagements und Verträge aufgekündigt, wenn russische Künstlerinnen und Künstler sich kremlnah gaben.

Ja, in ein paar Fällen stimmt das. Manche Stiftungen sagen auch, dass jetzt kein Austausch mit Russland stattfindet.

Teilen Sie die Empfindung, dass in vielen westeuropäischen Ländern die ukrainische Kultur bislang nicht ausreichend als eigenständige Kultur wahrgenommen und marginalisiert wurde im Vergleich zur russischen?

Absolut, ja. Viele haben immer noch die alte postkoloniale Optik und sehen die Ukraine als russisches Gebiet, vor allem kulturell. Ein Beispiel: Das Goethe-Institut in Kiew war bis vor Kurzem dem Goethe-Institut in Moskau untergeordnet – und eben nicht direkt der Zentrale in München. Und es gibt ganz viele solcher Beispiele. Ich hoffe, es wird sich nach dem Krieg ändern. Russland hat sehr viel Geld in Propaganda unterstützende Kultur gesteckt wie die Literatur – auf der ganzen Welt, nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa, vor allem aber in der Ukraine selbst. Es gab Zeiten, in denen die russischen Verlage bis zu 90 Prozent ihres Umsatzes in der Ukraine gemacht haben. Der Inhalt des aus Russland importierten Medienkontingents war so hoch, dass man Quoten einführen musste, um das ukrainische Kontingent zu erhöhen. Anfang des Jahres 2013 sagten Experten aus der Fernsehindustrie in Kiew, dass Quoten von 20 Prozent für den ukrainischen Anteil im ukrainischen Fernsehen unrealistisch hoch seien. Jetzt ist es wesentlich mehr. Die Quoten haben viel gebracht.

Inwiefern?

Bevor die Sprachquoten eingeführt wurden, um die Menge der aus Russland importierten Sendungen zu reduzieren, hatten wir eine ganz andere Situation in den östlichen Gebieten der Ukraine, die am meisten russifiziert und dem permanenten Einfluss der russischen Propaganda ausgesetzt waren. Wir können es sehen, wenn wir die Haltung der Bevölkerung im Jahr 2014 mit ihrer jetzigen Haltung vergleichen. Viele Menschen in der Ostukraine sprechen weiterhin Russisch, aber sie wollen nicht mehr nach Russland, nicht Teil von Russland werden. Sie haben sich jetzt ganz bewusst politisch für die Ukraine entschieden.

Sie sprechen von Fernsehsendungen. Wie ist das mit Zeitungen?

Es gibt kaum noch gedruckte Presseerzeugnisse in der Ukraine, nur Online-Medien – sowohl auf Ukrainisch als auch auf Russisch. Es herrscht kein Sprachkrieg innerhalb der Ukraine. Die Sprachfrage wird von Russland bloß zynisch instrumentalisiert, um den Angriffskrieg zu verteidigen. In der Ukraine werden mehrere Sprachen gesprochen, nicht nur Ukrainisch und Russisch.

Auch Griechisch und Türkisch, Krimtatarisch, Rumänisch, Ungarisch, Polnisch …

Ukrainisch ist die Staatssprache de jure, aber Russisch war es bis vor Kurzem de facto. So war es in der sowjetischen Zeit, und so möchte es Russland weiterhin haben. Ukrainisch ist bis jetzt unterrepräsentiert in vielen Bereichen; doch sobald man die Lage für das Ukrainische verbessern will, spricht Russland von Diskriminierung des Russischen. Es gibt Schriftsteller, die 2014 aus den besetzten Gebieten geflüchtet sind, aus Donezk oder Luhansk, die weiterhin auf Russisch schreiben. Manche haben nun bewusst zum Ukrainischen gewechselt. Aber nicht alle.

Beispielsweise Andrij Kurkow, er schreibt auf Russisch.

Genau. Er ist Präsident vom ukrainischen PEN. Das wäre nie möglich gewesen, wenn wir uns jetzt nach Sprachen definieren würden. Kurkows Bücher sind in Russland übrigens längst verboten. Er kann dort nicht einreisen, nicht veröffentlichen.

Es ist eine seltsame Vorstellung, dass Menschen, bloß weil sie Russisch sprechen, in Russland leben wollen. In der Ukraine habe ich einige Menschen getroffen, die eigentlich aus den östlichen Gebieten kommen. Und sie sagten, sie sprechen gerne Russisch, und sie sahen auch Verbindungen in der Kultur zu Russland, aber sie wollen auf gar keinen Fall Russen sein. Mir scheint, dass man dies in Deutschland falsch eingeschätzt hat. Hier hieß es oft: Die Ukraine wird sich irgendwann in die EU-affine West-Ukraine und die Russland-affine Ost-Ukraine teilen. Es wurde wenig verstanden, dass Menschen, die im Osten der Ukraine leben und Russisch sprechen, trotzdem in der Ukraine, vielleicht auch in einem EU-Mitgliedsstaat leben möchte.

Das wäre so ähnlich, wie wenn man sagen würde: Okay, die Österreicher, die wollen nach Deutschland, Teil von Deutschland sein.

Oder die Schweizer …

Die Situation ist zudem in der Ukraine anders, weil die Menschen, die russischsprachig aufgewachsen sind, dies meist nicht freiwillig getan haben. Im russischen Imperium wurde die ukrainische Sprache per Gesetz verboten. Man durfte nichts in Ukrainisch veröffentlichen, keine Theatervorstellungen machen, absolut gar nichts. Im Westen der Ukraine, der in dieser langen Zeit zum Habsburger Reich gehörte, hat man alles Ukrainische gedruckt und heimlich über die Grenze in den Osten geschmuggelt. 300 Jahre lang. Aber auch das Habsburger Reich war kein Paradies für Ukrainer. Man konnte an der Uni nicht auf Ukrainisch lehren, studieren oder promovieren, nur auf Polnisch oder auf Deutsch. Später, im sowjetischen Imperium, wurde das Ukrainische weiter unterdrückt. Man hatte darauf bestanden, dass Ukrainisch und Russisch einander sehr ähnlich sind. Das ist natürlich ein reiner Mythos. Ukrainer verstehen Russisch, weil sie es gelernt haben. Russen hingegen verstehen Ukrainisch kaum. Aber um diesen Mythos aufrechtzuerhalten, hat man sogar die sowjetischen Wörterbücher bei uns zensiert. Die Wörter, die dem Russischen ähnlich sind, durften bleiben, der Rest wurde als veraltet ausradiert. So weit ging das.

Was wurde aus diesen Wörterbüchern?

Die gibt es immer noch, obwohl die Ukraine seit über 30 Jahren unabhängig ist. Unser akademisches System ist nicht auf dem besten Stand, leider; das Land ist arm. Deswegen dauert das, bis neue Wörterbücher entstehen können.

Sehen Sie jetzt eine Annäherung an den Westen, eine politische Chance, die sich auch aus
der Wahrnehmung der Kultur ergibt?

Ja, unbedingt. Der EU-Kandidatenstatus für die Ukraine war eine enorm wichtige Entscheidung, eine Chance, zumindest in Zukunft eine sichere Grenze mit Russland zu haben. Die Wahrnehmung des Landes hat sich sehr verändert seit meiner Studentenzeit 1995 in Freiburg. Damals sollte ich jedes Mal die Ukraine auf der Landkarte zeigen. Und es gab natürlich zu der Zeit ganz wenige Ukrainer in Europa, man brauchte jedes Mal ein Visum, und es war sehr schwierig, eines zu bekommen. Seit der Visumsfreiheit hat sich das wesentlich verbessert. Der Austausch ist für viele möglich geworden. Jetzt leben und arbeiten viele Ukrainer in Europa und werden geschätzt. Die größere Nähe, der Austausch, der offenere Dialog, führen zu einer Reduzierung von Vorurteilen und Stereotypen. Diese Leute verändern die Wahrnehmung der Ukraine, verbessern sie. Immer öfter betrachtet man im Westen die Ukraine jetzt nicht mehr als ein postsowjetisches Land, sondern als einen moderneren Staat, in dem die Bevölkerung frei und friedlich leben will. Das wird aber derzeit von Russland, durch den Krieg, verhindert.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.