Die seit Mitte Oktober vermehrten Luftangriffe der russischen Armee auf die ukrainische Zivilbevölkerung führen zu einer neuen Fluchtwelle. Dies offenbart die baupolitischen Versäumnisse der ukrainischen Regierungen in den vergangenen drei Jahrzehnten umso mehr. Die sieben Millionen Binnenflüchtlinge, die bis August 2022 gezählt wurden, belasten einen Wohnungsmarkt, der ausschließlich privatwirtschaftlich organisiert ist und dem Staat keine Regulierung der Wohnraumverteilung erlaubt. Die wenigen Instrumente und Programme zur Schaffung von sozialverträglichen Wohnflächen erweisen sich auch unter Kriegsrecht als unbrauchbar. Das Sofortprogramm für die langfristige Unterbringung von Vertriebenen, das 2014 für Flüchtlinge aus der Ostukraine und der Krim aufgelegt wurde, konnte die Bedürfnisse der Wohnungssuchenden bisher nicht angemessen erfüllen. Die meisten von ihnen waren bei der Suche nach einer neuen Unterkunft auf sich selbst angewiesen. Nach Angaben des Internationalen Büros für Migration mieteten 45 Prozent eine Wohnung, 17 Prozent waren 2020 bei Verwandten untergebracht, nur zwei Prozent in temporären Sammelunterkünften und Lagern. Modulare Siedlungen, die in mehreren ukrainischen Städten errichtet wurden, werden bereits seit acht Jahren von Binnenvertriebenen bewohnt und sind somit zur Dauerlösung geworden.  

Der Bedarf an Unterkünften für die vertriebene Bevölkerung aus den von der russischen Armee seit Februar 2022 besetzten und beschädigten Gebieten hat an Umfang und Dringlichkeit dramatisch zugenommen, was die Gemeinden und lokalen Behörden kaum bewältigen können. Der Staat hat seine sozialpolitische Verantwortung in der Wohnungsfürsorge nicht wahrgenommen. Viele Muster der Unterbringung einer neuen Welle von Vertriebenen folgten den seit 2014 etablierten Methoden: Auf Freiflächen stellen die Kommunen hastig Container auf, da es an Alternativen mangelt. Allerdings decken diese Ad-hoc-Lösungen nicht den Bedarf der Wohnungssuchenden und bieten in den meisten Fällen keine nachhaltige Unterbringung. Einerseits macht der russische Angriffskrieg dieses Versagen in der Wohnungspolitik auf besonders brutale Weise deutlich. Andererseits zwingt er zur Transformation des Immobilienmarktes im Schnellverfahren. 

Kurze Schockstarre der Bauwirtschaft 

Die Ukraine verfügt über hochmoderne Bautechnologien. Massenwohnungsbau gilt seit vier Generationen als zentrales Element von Wirtschaft und Gesellschaft. In der Sowjetunion genossen Architekten und Bauingenieure – neben Militärtechnik und Raumfahrt – höchste Anerkennung. Weltweit betrachtet, war kein staatliches Bauprogramm in den vergangenen 100 Jahren hinsichtlich seiner Quantitäten bedeutender als der serielle Wohnungsbau zwischen Ostsee und Pazifik – Ende der 1950er Jahre von dem gebürtigen Ukrainer Nikita Chruschtschow ins Leben gerufen. Bis zum heutigen Tag suchen die Länder, die einst Teil der UdSSR waren, nach einer Möglichkeit, dieses komplizierte Erbe angemessen zu teilen. Der Überfall der russischen Armee auf das Nachbarland entwertet nicht nur diese ostslawische Völkerfreundschaft, sondern auch das gemeinsame Architekturerbe mit Waffengewalt. 70 Jahre Fremdherrschaft haben in der Ukraine aber auch positive Spuren hinterlassen. Denn die Bauwirtschaft der UdSSR war aufgrund zunehmender Materialknappheit, Finanzproblemen sowie Katastrophen im usbekischen Taschkent (1966), im ukrainischen Tschernobyl (1986) oder im armenischen Spitak (1988) krisenerprobt – eine Eigenschaft, von der die Ukraine bis heute profitiert. Denn in einigen Landesteilen hatte die Baubranche die Schockstarre des 24. Februar bereits nach kurzer Zeit überwunden und sich auf die Notfallsituation eingestellt. 

In den ersten Wochen des russischen Angriffskriegs war der Bausektor in weiten Teilen des Landes zunächst zum Erliegen gekommen. Auch weiterhin ist eine flächendeckende Rückkehr zum Normalbetrieb nicht denkbar. Die aktuellen Kriegshandlungen beeinflussen die seit einigen Jahren ohnehin bestehenden Lieferengpässe, Ressourcenverknappung und Preissteigerungen. Vor allem bei Baustahl, Bauholz und erdölbasierten Baustoffen wie Bitumen und Asphalt sind diese Veränderungen spürbar. Nach Recherchen des Immobilienmagazins »InVenture« erholte sich die Bauwirtschaft in westlichen Oblasten drei Monate nach dem Krieg teilweise wieder. Während die Bautätigkeiten in der Region Odessa um 40 Prozent gegenüber Anfang 2022 zurückgegangen waren, brachen die Aktivitäten in den Regionen Dnipropetrowsk (16 %) und Kiew (12 %) im Vergleich geringer ein.  

Während Baubataillone der russischen Armee in den besetzten Gebieten – etwa in Mariupol – medienwirksam mit dem Wiederaufbau begonnen haben und den Wohnungsneubau zur psychologischen Kriegsführung einsetzen, beschränken sich die Aktivitäten von Projektentwicklern und Baufirmen in nicht besetzten Gebieten ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn auf die Fertigstellung laufender Projekte und die Reparatur der beschädigten Objekte. In den von der Frontlinie entfernten Gebieten in der Westukraine sind temporäre Unterkünftige für Flüchtlinge entstanden, die nicht im bestehenden Wohnungsbestand untergebracht werden konnten. In Ortschaften, die die russische Armee nach erfolgloser Blitzeinnahme der Hauptstadt Kiew Ende März verließen, wurden im Rahmen der Nothilfe teils selbstorganisierte oder durch Nichtregierungsorganisationen initiierte Wohncontainer aufgestellt. Diese Moduldörfer, die inzwischen auch in anderen Oblasten entstanden sind, erscheinen wie Baustellenunterkünfte und erfüllen lediglich funktionale Anforderungen. Die Ein-Raum-Häuser in Butscha, Irpin oder Borodjanka haben eine Fläche von 20 Quadratmetern, verfügen über eine Basismöblierung sowie Sanitär und sind an das Internet angeschlossen.  

Den Geflüchteten stellt der Staat diese Notunterkünfte zwei Jahre lang gratis zur Verfügung. Der derzeitige Plan sieht vor, dass die Bewohner nach Ablauf der Frist ihr Wohnmodul kaufen. Soll dieses Konzept aufgehen, müssen die Planer aber schon beim Aufstellen eine solche Nachnutzung mitdenken. Denn mit zunehmender Dauer des militärischen Konflikts rückt die Frage nach einem nachhaltigen Wohnungsbau für die Binnenflüchtlinge in den Fokus. Dazu zählen Strategien, temporären Wohnungsbau so zu planen, dass die entstehenden Flächen nach dem Krieg zu vollwertigem Wohnraum entwickelt werden können. Das schließt eben auch eine Übertragung an und den Weiterbau durch Bewohner selbst ein, die nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren möchten oder können. Lokale Akteure im Bauwesen sehen in der gegenwärtigen Situation bzw. dem im zukünftigen Wiederaufbau Potenziale, sofern ihre Unternehmen bis Kriegsende Marktteilnehmer bleiben. Teilweise sind Baufirmen dazu übergegangen, ihre Produktion auf den Bedarf des ukrainischen Militärs umzustellen. Hersteller von Betonfertigelementen produzierten in den ersten Kriegswochen mobile Straßensperren wie T-Walls oder modulare Schutzelemente z. B. Legioblöcke, die von der territorialen Verteidigung an verkehrswichtigen Orten aufgestellt wurden und zu einem unübersehbaren Zeichen des Krieges geworden sind.  

Über die Strukturen eines zukünftigen Wohnungsmarktes und die dafür erforderlichen Voraussetzungen im Bauwesen kann vor Ende der Kampfhandlungen nur spekuliert werden. Selbst nach einem Ende des Angriffskrieges bleibt – basierend auf der aggressiven Politik seit Wladimir Putins Amtsantritt im Jahr 2000 – die Unberechenbarkeit der Russischen Föderation, zukünftig weitere Territorialansprüche militärisch geltend machen zu wollen.  

Preisentwicklungen auf dem Wohnungsmarkt 

Die Fluchtbewegungen gen Westukraine haben zu Verzerrungen auf dem ohnehin kleinen Wohnungsmietmarkt geführt. So etwa lag die durchschnittliche Wohnungsmiete in der Oblast Lwiw vor dem 24. Februar 2022 bei 7.500 Griwna (etwa 200 Euro), im Mai jedoch bei fast 13.000 Griwna (etwa 350 Euro). In der Region Iwano-Frankiwsk betrug die Durchschnittsmiete 5.400 Griwna, stieg aber auf knapp 8.000 Griwna. In der Oblast Chmelnyzkyj hat sich die durchschnittliche Wohnungsmiete von 3.700 Griwna auf 8.500 Griwna mehr als verdoppelt, wie die ukrainische Soziologin Alona Liasheva festgestellt hat. Spitzenreiter in der Mietpreissteigerung ist Uschhorod, Grenzstadt zur Slowakischen Republik. Dort liegen die durchschnittlichen Mietpreise bei 15.000 Griwna, was fast dem 2,5-Fachen des Vorkriegsniveaus entspricht. Der Staat konnte aufgrund fehlender Regulierungsinstrumente wie etwa einer Mietpreisbremse nicht eingreifen. Die Wohnungssuchenden – fast ausnahmslos Binnenflüchtende – sind der Spekulation oder Solidarität ihrer Vermieter schutzlos ausgeliefert.  

Freilich hat der Krieg auch zu kurzfristigen Veränderungen bei den Kaufpreisen geführt. Regional fallen diese unterschiedlich aus. Sechs Monate nach Beginn der Invasion sind die Immobilienpreise in Lwiw um zehn Prozent gestiegen. Kostet eine Ein-Zimmer-Wohnung Ende 2021 noch etwa 45.000 Euro (Neubau) bzw. 35.000 Euro (Altbau), waren diese Preise Ende Juni 2022 auf 49.000 Euro bzw. 39.000 Euro angewachsen. In Dnipro, im Sommer 2022 knapp 100 Kilometer nördlich der Frontlinie gelegen und immer wieder Ziel russischer Raketenangriffe, sind die Kaufpreise für Wohnungen laut der in Kiew erscheinenden Boulevardzeitung »KP« durchschnittlich um zehn Prozent gesunken. Auch in Kiew sanken die Preise um durchschnittlich sechsProzent. Wie sich die weitverbreitete und akzeptierte Korruption mittelfristig auf dem ukrainischen Immobilienmarkt entwickeln wird, kann derzeit noch nicht belastbar beziffert werden

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.