Das antisemitische Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und die Reaktionen darauf stellen eine Zäsur dar, die in grundlegender Hinsicht auch und nicht zuletzt in Deutschland die Möglichkeit des jüdisch-muslimischen Dialogs massiv infrage stellt.

Was kann in dieser Situation eine Denkfabrik Schalom Aleikum tun, die seit September 2022 unter dem Dach des Zentralrats der Juden besteht und sich dem Di- bzw. dem Trialog und seinen gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen, wissenschaftlichen Komponenten verschreibt?

Es stellt sich heute gar die Frage, inwieweit es noch Verständigungsmöglichkeiten gibt, inwieweit es also zu einem Prozess der persönlichen, gesellschaftlichen und (bildungs-)politischen Einigung zwischen Juden und Muslimen in Deutschland kommen kann. Vieles spricht zurzeit dagegen. Es scheint, dass die rationale Motivation zu Empathie und Wissensannahme durch vorgefertigte Bilder und Meinungen gestört ist, die ihrerseits gerade diese Grundprämissen des Dialogs unterminieren.

Die Annahme eines alternativlosen Dialogs ist keinesfalls selbstverständlich und voraussetzungslos. Die Aussage »nichts wird nach dem 7. Oktober 2023 so wie früher sein«, die wir teilen, führt uns zu einigen grundlegenden Fragen: Wie kann es im heutigen jüdisch-muslimischen Dialogprozess zu einem Verständnis kommen, das keine Gleichgestimmtheit voraussetzt? Wie ist ein Vertrauen in einem aktuell scheinbar grenzenlosen Misstrauen möglich? Welche Akteure, Inhalte und Ausdrücke sind hier möglich?

Es braucht heute Räume, Safe(r) Spaces, in denen Platz ist für Schmerz, Wut, Ambivalenz und Verunsicherung. In diesen Räumen, die nicht von laufenden Kameras begleitet werden sollen, sind die Vertreter und Angehörige jüdischer und muslimischer Communitys in nächster Zeit am besten aufgehoben. Die emotionale Begegnungsebene kann in dieser Zeit, vor allem im Austausch mit jungen Erwachsenen, zur primären Norm des Dialogs werden. Noch relevanter für unser Anliegen sind Räume, in denen bereits jüdisch-muslimischer Dialog praktiziert wird: Was eignet sich zur Kontinuität, was nicht? Viele Dialogpartner sind nach dem 7. Oktober keine mehr – sie wollen es nicht mehr, oder wir können nicht mehr mit ihnen.

Was tun?

Die Veranstaltung der Denkfabrik in Erfurt am 11. Oktober 2023 bleibt uns in Erinnerung. Aus der geplanten Gesprächsrunde über jüdische, muslimische und christliche Perspektiven in einem politisch wackeligen, wichtigen ostdeutschen Bundesland wurde ein Gespräch über Perspektiven und Grenzen eines Dialogs nach dem Terror der Hamas gegen Israel, der in Deutschland extrem stark resoniert. Der Veranstaltung ging eine Kundgebung in der Altstadt von Erfurt voraus – es ging um Israelsolidarität. Viele der Gäste kamen nachher zu uns.

Auch beim Gemeindetag des Zentralrats der Juden Ende des Jahres 2023 ging es um die Folgen des Hamas-Terrors. Die Vertreter der jüdischen Gemeinschaft sprachen – aufgeregt und tief verletzt – mit Politikern und Wissenschaftlern über die Folgen des 7. Oktober. Das aktuelle Buch der Denkfabrik »Glaubensspuren« über die junge ostdeutsche Generation der Juden, Muslime und Christen wurde präsentiert.

Wir führten in den vergangenen Monaten – jenseits der Öffentlichkeit – Gespräche mit Politikern, gesellschaftlichen und Dialogakteuren. Ratlos, aber auch hoffnungsvoll, fragten wir uns dabei: Wie kann es weitergehen mit Juden und Muslimen in Deutschland?

Diese Fragen nahmen wir in das neue Arbeitsjahr 2024 mit. Es geht uns ums Netz und den Dialog bzw. den Hass dort. Das Internet ist ein Raum, der vor allem von jungen Menschen eingenommen wird. Uns ist klar – der Nahostkonflikt, ein ewiger »Elefant im Dialograum«, darf nicht mehr ausgeklammert werden. Wir starteten mit einer Gesprächsrunde im Dortmunder BORUSSEUM – und thematisierten am 20. März die besagten politischen und rhetorischen »Elefanten« im digitalen Raum.

Ob es um religiöse Communitys oder um den Bildungsprozess geht – das Thema »junge Menschen« bleibt für die Denkfabrik zentral.

»Empowerment« ist ein großes Wort. Die Gegenüberstellung »hier ein selbstbestimmtes, autonomes Leben« – »dort diverse Diskriminierungserfahrungen« scheint mir für diesen gesellschaftlichen Moment weniger aktuell zu sein.

Hier möchte ich drei dialogische Punkte vorschlagen:

  • Getrennte Räume zulassen – jede/r in seinem/ ihrem Raum, mit der eigenen Familie, Freunden, Community.
  • Eine Fehlerkultur ermöglichen. Ein junger Mensch sollte über seinen Schmerz und seine Sorgen ungefiltert, auch politisch unkorrekt reden dürfen. Die Moderierenden sollen sensibel sein, wenn Aspekte wie Antisemitismus, Vorurteile, Muslimfeindlichkeit beim Namen genannt werden, und nicht gleich das Gespräch abbrechen.
  • Die heute ubiquitäre mediale Dimension muss verlassen werden. Jungen Teilnehmenden von Dialogformaten kann so Angst genommen werden, selbst in das Schussfeld von möglichen Anfeindungen und Loyalitätsvorwürfen zu geraten.

Es ist eine äußerst kritische Zeit für den jüdisch-muslimischen Dialog – und vielleicht die wichtigste Zeit dafür überhaupt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.