Mit der Kultur ist es ein wenig wie in der Politik: Nur selten bekommt man eine klare Antwort, dennoch prägt sie uns in jedem Lebensbereich. Sie ist gewissermaßen die Nahrung für unsere Seele. Stellen Sie sich vor, wie sich Gershom Sholem, Else Lasker-Schüler und Amos Oz in einem Kaffeehaus in Jerusalem treffen. Auf die Frage, was Kultur ist, würde Sholem vermutlich antworten, dass sie der lebendige Ausdruck einer historischen, oft auch gebrochenen Beziehung zwischen Tradition und Gegenwart ist.
Ein Blick nach Israel zeigt, wie lebendig und facettenreich diese Beziehung sein kann. Der junge Staat wurde zu einem Schmelztiegel verschiedenster Kulturen. Hier treffen Orient und Okzident nicht nur geografisch aufeinander. Auf den großen Märkten findet man irakisch-jüdisches Sabich neben Gefilte Fisch und Tscholent. Man läuft durch Gassen voller Häuser im osmanischen Stil, um dann in der europäisch anmutenden Gartenstadt Rechavia zu landen – dem Grunewald im Orient.
In Israel erlebten viele Einwanderer einen Bruch ihrer kulturellen Traditionen – und versuchten dennoch, sie in den neuen Staat zu übertragen. Dieser kulturelle Mix macht Israel heute zu einem einzigartigen Ort der Erfahrung. In seinen Straßen mischen sich unzählige Düfte und Geschmäcker aus aller Welt, während orientalische, jüdische, russische und jemenitische Klänge die Luft erfüllen. Kultur entsteht dort, wo Menschen sich ernsthaft mit ihrer eigenen Überlieferung auseinandersetzen. Deswegen füllen heute nicht nur Sinfonieorchester die Hallen, sondern auch Popmusiker wie Rita und Idan Raichel.
Kultur ist mehr als Tradition – sie ist auch Ausdruck von Lebensfreude, Symbolen, Freiheit und Gemeinschaft. Doch all das bleibt nicht unversehrt von den Brüchen der Geschichte. Wie Amos Oz es vielleicht formuliert hätte: Kultur trägt immer auch die leisen Schatten dessen in sich, was ihr vorausging. Selbst ihre hellsten Zeichen – Musik, Tanz, Sprache – bewahren die Spuren vergangener Erschütterungen. Genau diese Vielfalt, diese Feier des Lebens, wollten unzählige junge Menschen auf dem Nova-Festival erleben – einem Rave in der Nähe des Kibbuz Re’im. Was als Ausdruck von Musik, Freiheit und Gemeinschaft gedacht war, wurde jedoch zum Schauplatz des größten Massenmords im Kontext des 7. Oktober 2023. Mehr als 350 junge Menschen, die nichts anderes vorhatten, als zu feiern und die Musik zu genießen, wurden grausam aus dem Leben gerissen. Etliche wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.
Und während in Israel die Trauer um die Opfer das öffentliche Leben bestimmte, verharrte ein Großteil der deutschen Kulturszene in ohrenbetäubendem Schweigen. Ausgerechnet jene, die sich der Menschlichkeit und Toleranz verschrieben haben, verweigerten den israelischen Opfern ihre Empathie – und trafen damit oft genau jene, die zu den schärfsten Kritikern der eigenen Regierung gehören. – Warum erzähle ich Ihnen das alles?
Weil wir an einem Scheideweg stehen. Kultur war lange Zeit ein Raum der Offenheit, des Austauschs, der Begegnung. Ein Ort, an dem Vielfalt gefeiert wurde, an dem unterschiedliche Perspektiven nebeneinander existieren konnten. Doch heute scheint sich das Blatt gewendet zu haben: Eine Plattform erhält nur noch, wer bereit ist, sich von Israel zu distanzieren. Wer seine jüdische Identität infrage stellt oder sie gar verleugnet. Israelische Künstlerinnen und Künstler werden unter Druck gesetzt, sich gegen ihr Heimatland zu stellen. Je lauter die Kritik am eigenen Ursprung, desto größer die Anerkennung. Je radikaler die Abgrenzung, desto größer die Erfolgsaussichten. Und wir? Wir haben zu lange weggesehen. Wir haben gehofft, dass es sich um vereinzelte Ausreißer handelt, um Missverständnisse, um vergängliche Stimmungen. Doch der 7. Oktober hat uns brutal aus dieser Illusion gerissen.
Früher wirkte Kultur wie ein Band, das uns näher zusammenführte – wie ein Kompass, der uns Orientierung bot. Heute scheint seine Nadel gefährlich zu zittern. Gerade deshalb müssen wir zurück zu den Wurzeln: zu einer Kultur, die Brücken baut, Horizonte öffnet und die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel aktiv stärkt.
Ein Blick zurück: Am 12. Mai 1965, nur 20 Jahre nach dem unfassbaren Verbrechen der Shoah, nahmen Israel und Deutschland offiziell diplomatische Beziehungen auf – ein mutiger Schritt, der den Weg für eine gemeinsame Zukunft ebnete. Heute, 60 Jahre später, blicken wir auf eine bemerkenswerte Partnerschaft, die als wahres Wunder erscheint, wenn man die schreckliche Vergangenheit bedenkt.
Doch dieser Weg begann nicht in den Amtsstuben. Lange bevor es offizielle diplomatische Abkommen gab, war es der kulturelle Austausch, der für Annäherung sorgte. Denken Sie an die frühen wissenschaftlichen Kooperationen zwischen israelischen und deutschen Einrichtungen: das Technion, das Weizmann-Institut und die Max-Planck-Gesellschaft zählten zu den Pionieren dieser Zusammenarbeit. Albert Einstein vererbte seine Schriften an die Hebräische Universität von Jerusalem, Gershom Sholem lehrte dort bereits in den 1920er Jahren. Deutsche Architekten entwarfen erste Gebäude, Professoren aus Berlin – jüdische wie nichtjüdische – verfassten die Lehrpläne.
Die Frage der Unterrichtssprache entfachte Debatten – Hebräisch oder Deutsch? Man entschied sich für das Hebräische – eine altneue Sprache für eine Gesellschaft, die sich selbst neu erfand, ebenso wie das Volk, das sie sprach. Das Hebräische wurde wiederbelebt, und es belebt bis heute unsere Kultur und verbindet uns mit unseren Wurzeln. Faszinierend, wenn man darüber nachdenkt: Die Schriftrollen von Qumran stammen aus dem 3. Jahrhundert vor Christus – sie sind also über 2000 Jahre alt. Und doch kann jedes israelische Kind sie mit etwas Mühe entziffern.
Die enge Verbindung zwischen Deutschland und Israel zeigt sich nicht nur in Wissenschaft und Bildung, sondern auch auf den Bühnen der Musik. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Israel Philharmonic Orchestra. Im Jubiläumsjahr wird Dirigent Lahav Shani am 25. Mai 2025 in München ein besonderes Konzert dirigieren – gemeinsam mit dem Israel Philharmonic Orchestra, dessen musikalische Leitung er innehat, und den Münchner Philharmonikern, die er ab 2026 führen wird.
Dieses Konzert ist weit mehr als eine musikalische Kooperation. Es ist ein Zeichen dafür, dass israelische Kultur ihren festen Platz in Deutschland gefunden hat. Hier wird nicht nur Musik gemacht – hier wird gehört, was Israel zu sagen hat: künstlerisch, emotional, eigenständig. Wenn Tzvi Avnis »Prayer« erklingt – ein Werk voller biografischer Tiefe und historischer Resonanz – dann ist das keine Randnotiz, sondern Ausdruck einer selbstbewussten israelischen Stimme auf deutschem Boden.
Tzvi Avni, einer der bedeutendsten Komponisten Israels, wird selbst anreisen. Geboren 1927 in Saarbrücken als Hermann Jakob Steinke, emigrierte er mit seiner Familie 1935 ins damalige Palästina. Heute, 97-jährig, kehrt er zurück – nicht nur als Zeitzeuge, sondern als Künstler.
Kultur entsteht aus Geschichten, die ein Volk über sich selbst erzählt. Und Israel wird beim diesjährigen ESC in Basel – dort, wo Theodor Herzl den Judenstaat gedanklich gründete – genau das tun: eine Geschichte von Stärke, Resilienz und Empathie erzählen.
Die Überlebende des Nova-Festivals, Yuval Raphael, wird im Mai 2025 vor über 180 Millionen Menschen den Song »New Day will rise« singen. Sie überlebte, weil sie sich zwischen den Leichen ihrer ermordeten Freunde im Bunker totstellte. Heute, mit nur 24 Jahren, steht sie für Israel auf der Bühne – und sendet ein Signal der Hoffnung an die Welt.
Diese Geschichte zeigt: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind mehr als Politik. Sie sind geprägt von Wissenschaft, Kultur und Begegnung. Wahre Verständigung wächst nicht in diplomatischen Reden, sondern im echten Miteinander.
In dieser gelebten Demokratie stehen starke israelische Frauen an vorderster Front. Als Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen, Richterinnen, Soldatinnen und Aktivistinnen prägen sie die Debatten – oft als treibende Kräfte für Reformen, Rechte und Wandel. Sie formen Israels öffentliche Räume, gestalten seine Kultur, prägen seine Zukunft.
Else Lasker-Schüler würde über diese Gedankenreise vielleicht sagen: Kultur erwächst aus den Wunden der Geschichte – und blüht in jedem Herz, das noch spielen, weinen und lieben kann. Mit der Vergangenheit im Gedächtnis blicken wir hoffnungsvoll in die Zukunft. Gerade heute dürfen wir nicht zulassen, dass der wachsende Hass auf Israelis und Juden erneut Mauern errichtet. Im Gegenteil: Er zeigt uns, wie unverzichtbar echte Begegnungen, Dialog und kultureller Austausch sind.
Die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland sind stark – und Kultur, von kulinarischen Leckerbissen bis hin zu großen Sinfonieorchestern, ist eine tragende Säule dieser Beziehung. Ihre Stärke liegt in der gemeinsamen Verpflichtung, die Freiheit künstlerischen Ausdrucks zu verteidigen. Gegen Ausgrenzung. Gegen Hass.
Denn Israel ist mehr als nur ein sicherer Hafen für das jüdische Volk. Es ist eine lebendige, streitbare Demokratie – eine Gesellschaft, die sich unaufhörlich selbst hinterfragt: über Politik, Religion, Kultur, Frieden, Sicherheit und die Werte, die sie trägt.
Nach all dem Schmerz und der Wut bleibt am Ende nur eines: der Appell an unsere gemeinsame Verantwortung. Ich klage nicht nur jene an, die offen hassen – sondern auch jene, die schweigen, wegsehen, relativieren. Die Heuchelei dulden, Feigheit kaschieren und Gleichgültigkeit hinter schönen Worten verstecken.
Denn wer heute Antisemitismus im Kulturbetrieb gewähren lässt, wer die Delegitimierung Israels toleriert, riskiert mehr als nur den Verlust jüdischer Stimmen in unseren Erzählungen. Er riskiert den moralischen Kompass unserer Gesellschaft.
Möge die Hoffnung nicht verstummen – auf eine Kultur, die wieder Brücken baut, statt Gräben zu vertiefen.
Es ist Zeit, dass wir unsere Stimme erheben. Nicht später. Jetzt.