Nur selten ist Kultur medial in einer Stadtgesellschaft so präsent wie in einer Kulturhauptstadt Europas. In diesem Jahr ist Chemnitz europäische Kulturhauptstadt. Aber nicht Chemnitz allein. Auch Nova Gorica in Slowenien trägt diesen Titel. Und Chemnitz hat sich mit 38 weiteren sächsischen Kommunen zusammengetan – eine ganze Region ist Kulturhauptstadt.
Schon das Motto, das Chemnitz gewählt hat, macht deutlich, welche Kraft Kultur haben kann: »C the Unseen – das Ungesehene sichtbar machen«. Chemnitz meint damit nicht nur kleine, bisher von vielen unentdeckte Kulturorte in der Stadt. Das Motto kann vielleicht auch politisch gelesen werden: Extreme politische Einstellungen werden immer präsenter, sichtbarer und lauter. Und die Mitte? Schweigt sie? Chemnitz möchte diese stille Mitte ermutigen, »sich wieder einzumischen: in den Nachbarschaften, in den Städten, in den Regionen Europas«, beschreibt Sven Schulze, Oberbürgermeister von Chemnitz, den Ansatz. Kultur als Debattenraum, der das Zeug hat, Menschen zu verbinden. Dieses Potenzial von Kunst und Kultur will Chemnitz ausschöpfen. Hier könnten wir den Text eigentlich enden lassen: Kunst und Kultur haben eine große Bedeutung für Städte und ihre Stadtgesellschaften. Punkt.
Wir alle wissen, das ist richtig – und trotzdem müssen wir über die Rahmenbedingungen sprechen. Die Finanzsituation der Städte ist dramatisch. Der Deutsche Städtetag hat Anfang des Jahres seine Mitgliedsstädte zur Haushaltslage befragt. Das frappierende Ergebnis: In diesem Jahr wird fast keine Stadt in Deutschland mehr einen echten ausgeglichenen Haushalt vorlegen können. Wohlgemerkt: Wir sprechen dabei nicht über ein selbstverschuldetes, sondern über ein strukturelles Defizit der kommunalen Haushalte. Denn die allermeisten Stellschrauben haben wir als Kommunen nicht selbst in der Hand. Gerade die Sozialausgaben wachsen stetig. Bund und Länder haben uns in der Vergangenheit immer mehr Aufgaben zugewiesen, ohne gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sie finanziert werden können. Die Kommunen tragen etwa ein Viertel der gesamtstaatlichen Aufgaben, haben aber nur ein Siebtel der Steuereinnahmen. Die meisten Städte schauen aktuell nicht, ob sie sparen wollen, sondern wo sie sparen müssen.
»Aber bitte nicht bei der Kultur«, werden jetzt viele sagen. Nachvollziehbar. Aber der finanzielle und politische Balanceakt, den kommunalpolitisch Verantwortliche bei jedem neuen Haushalt vollbringen müssen, ist komplex. Sie sind in ihren haushaltspolitischen Entscheidungen nicht so autark und flexibel wie Bund und Länder. Sie haben de facto nur einen begrenzten Spielraum, mit eigenen Steuern und Gebühren die Einnahmeseite zu verbessern. Und sie sind oft durch die Kommunalaufsicht wortwörtlich zum Sparen gezwungen. Das können sie im Prinzip nur bei den sogenannten freiwilligen Aufgaben. Eigentlich ist diese Formulierung politisch falsch. Viele dieser Aufgaben sind wichtig für den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft. Was juristisch freiwillig ist, kann politisch geboten sein. Auch deshalb tun diese Entscheidungen weh. Auf »Aber bitte nicht bei der Kultur« folgt »Aber bitte nicht bei Projekten der Jugendarbeit«, »Aber bitte nicht bei der Seniorenbegegnungsstätte« und »Aber bitte nicht die Zuschüsse für unseren Park«. Die Kürzungsdebatten, zu denen die Städte ohne eigenes Verschulden gezwungen sind, haben oft keine Gewinner, dafür viele Verlierer. Das ist ein extrem schwieriger Aushandlungsprozess vor Ort.
Und in diese Debatte kommt nun das Sondervermögen Infrastruktur. Alle Probleme in Zukunft gelöst? Die gute Nachricht: Die Bundespolitik hat den Ernst der Lage erkannt. Die geplanten zusätzlichen 500 Milliarden Euro über 12 Jahre sind beachtlich. 100 Milliarden Euro sind ausdrücklich für die Länder und Kommunen vorgesehen. Das gibt Anlass zur Hoffnung. Die Gretchenfrage aus kulturpolitischer Sicht: Wird von diesem Geld auch etwas vor Ort in den Kultureinrichtungen ankommen? Das hängt von der Verteilung ab, muss man sagen. Wir Städte werden an diesem Punkt grundsätzlich: Bund und Länder müssen uns endlich vertrauen. Das Sondervermögen kann ein echtes Pfund werden. Dafür darf es aber nicht wieder eine Ansammlung von bürokratischen Förderprogrammen sein, die uns Zeit und Ressourcen rauben. Ideal wären feste Budgets aus dem Sondervermögen Infrastruktur für die Städte, über die die Städte selbst entscheiden können. Die örtliche Politik weiß, was vor Ort gebraucht wird.
Wenn die Städte über solche Budgets zusätzliche Mittel für Infrastruktur bekommen und damit selbst flexibel über den Einsatz entscheiden könnten, dann hilft das auch dem Kulturbereich Ein Beispiel: Auch Kulturbauten müssen saniert werden. Auch sie sind städtische Gebäude, die in die Jahre gekommen sind, die technisch und energetisch nicht mehr dem Stand entsprechen. Sie sind häufig Spezialbauten, oft in denkmalgeschützten Gebäuden – und darum in der Sanierung aufwändig. Und ganz grundsätzlich: Eine Entlastung der kommunalen Investitionshaushalte bei der Sanierung und dem Bau von Schulen, Kitas und Straßen kann im städtischen Haushalt unterm Strich auch finanzielle Handlungsspielräume für den Kulturbereich schaffen.
Vielerorts könnte das helfen. Denn Stand heute ist die Situation noch eine andere. Viele Kommunen müssen massiv sparen – auch im Kulturetat. Hinzu kommt eine weitere negative Entwicklung, die diese Effekte noch verstärkt: Kürzungen im Kulturbereich von Bund und Ländern. So weist der vorläufige Haushaltsentwurf des Bundes für 2025 an vielen Stellen deutlich geringere Mittel bei der Kultur auf. Dazu gehören unter anderem Mittelkürzungen beim Bundeskulturfonds und der Freien Szene. Und auch in vielen Ländern steht der Kulturhaushalt unter Druck. Angesichts gleichzeitig steigender Sach- und Personalkosten wird das deutlich spürbar sein.
Die Lage der kommunalen Kulturhaushalte ist regional durchaus unterschiedlich. In manchen Städten steht die Kultur als freiwillige Leistung unter Druck. Eintrittsgelder werden erhöht. Im schlimmsten Fall drohen Schließungen von Kultureinrichtungen und damit unter Umständen dauerhafte Verluste in der kulturellen Infrastruktur. Auf der anderen Seite setzen viele Städte trotz der schwierigen Situation auf den Erhalt etablierter Strukturen. Dazu gehört auch die Freie Szene.
Ja, Kunst und Kultur haben eine wichtige Rolle für das gesellschaftliche Leben in der Stadt. Wie müssen sie sich dann aufstellen in Zeiten, in denen öffentliche Förderung zumindest unstet sein kann? Kommt es zu einem dauerhaften Umbau der kommunalen Kulturlandschaft? Mit einem «Immer mehr« in finanzieller Hinsicht rechnet vor Ort niemand mehr. Also geht es auch darum, die Mittel effektiv einzusetzen: Mögliche Synergien rücken in den Fokus, mal räumlicher, mal programmatischer Natur. Dazu kann etwa die Weiterentwicklung kommunaler Kultureinrichtungen gehören. Wenn etwa Bibliotheken zu «Dritten Orten« des Austauschs und der Begegnung werden, kann das einen zusätzlichen gesellschaftlichen Mehrwert von Kulturstandorten schaffen. Und zugleich könnte die Innenstadt einen kleinen Schritt auf dem Weg vom Einkaufsquartier hin zu einem Begegnungsquartier gehen.
Vielleicht erinnern wir uns auch nochmal an die »Kultur für alle«. Die Krise als Chance zur Neuorientierung sehen und prüfen, ob das vorhandene Geld – wieviel es auch immer ist – tatsächlich im Interesse und zu Gunsten aller eingesetzt wird. Daraus kann ein sinnvoller Prozess entstehen. Die Idee einer «Kultur für alle«, wie sie der frühere Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann Ende der 1970er Jahre geprägt hat, braucht einen neuen, zeitgemäßen Mantel. Wir brauchen Mut, in der kommunalen Kulturförderung neue Wege zu gehen. Wenn eine Krise der nächsten folgt, wenn wir uns überfordert fühlen, wenn wir Nachrichten meiden – dann hinterlässt das Spuren in den Stadtgesellschaften. Die Demokratie gerät unter Druck. In dieser Situation ist es gut, sich zu vergewissern, welchen Beitrag Kultur bei der Bewältigung gesellschaftlicher Krisen haben kann. Kunst und Kultur haben immer auch eine sozialpolitische Dimension. Sie können unsere Demokratie stärken und in einer Zeit wachsender Spannungen gemeinsame Identität stiften. Kulturpolitik ist immer auch Stadtpolitik.