Die Frage, ob Videospiele mehr als ein Unterhaltungsmedium sein können, regt zum Defensivwerden an. Man hört sie oft. Wenig überraschend hat sich die Videospielindustrie daher gewisse Verteidigungsmechanismen zugelegt, die durch beständige Wiederholung gut geölt sind. Dabei wird vonseiten der Industrie gerne mit den harten Zahlen der Erfolgswirtschaft eingeleitet, um die marktwirtschaftliche Bedeutung der Industrie und des Mediums der eventuell noch in den Köpfen sitzenden Kritik entgegenzustellen. Während der Kontakteinschränkungen der letzten Jahre wuchs die deutsche Gamingbranche rapide. Selbst leichte Rückgänge nun, da wieder mehr Menschen Hobbys außerhalb der eigenen vier Wände suchen, bringen die deutsche Branche auf 4,5 Milliarden Euro Umsatz allein im ersten Halbjahr 2022, gemessen durch den Verband der deutschen Gamingbranche game. Statista berechnet den weltweiten Umsatz der Industrie 2022 mit sage und schreibe 197 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Das ist mehr als das Doppelte der globalen Filmindustrie im selben Zeitraum.

Doch Videospiele sind mehr als marktwirtschaftlicher Erfolg, und sie sind auch mehr als seichte Unterhaltung. Repräsentative Befragungen durch den game-Verband in Deutschland zeigen etwa, dass 47 Prozent der Deutschen Spiele nutzen, um sich fit zu halten – das beinhaltet Laufapps mit Gamification-Ansätzen, bewegungsorientierte Virtual- und Augmented-Reality-Titel und Sportspiele wie Nintendos »Ring Fit Adventure«. Und das ist kein Phänomen nur eines kleinen Gesellschaftsteils: Nur die über 55-Jährigen liegen mit immer noch stolzen 30 Prozent unterhalb des Durchschnitts, alle anderen Altersgruppen darüber, teilweise signifikant.

Auch die Pädagogik nutzt Spiele bereits intensiv, wenn auch noch nicht so oft in Deutschland, wo Lehrpläne weniger flexibel und Schulen weniger digital sind als in anderen europäischen Ländern. Paradebeispiel ist die Education Edition des Milliardenhits »Minecraft« von Microsoft, auch die gewaltlosen Discovery Tours durch historische Schauplätze von Ubisofts »Assassin’s Creed«-Spielen dürfen kostenlos an Schulen genutzt werden. Doch auch deutsche Studios stoßen vor und stellen ihre Spiele zu Lehrzwecken zur Verfügung. Darunter sind kommerzielle Titel wie »The Curious Expedition« aus Berlin, das kostenlose Versionen für den Geschichtsunterricht anbietet, oder »The Dungeon Maker« aus Düsseldorf, das für Informatikunterricht oder im Studium genutzt werden kann. Dazu kommt das Feld der Serious Games, meist kostenlos aufrufbarer kleinerer Titel, die von Museen, Behörden wie dem Auswärtigen Amt oder der Bundeszentrale für politische Bildung, wohltätigen Organisationen und vielen anderen Mitformenden der Zivilgesellschaft produziert und publiziert werden, um Lernbares spielerisch umzusetzen, Demokratieförderung zu betreiben oder das eigene Angebot interaktiver zu gestalten. Deren Bedeutung wächst rapide, erst 2022 öffnete Nordrhein-Westfalen einen eigenen Fördertopf für genau solche Serious-Game-Ansätze, der mit einer halben Million Euro jährlich lokale Entwicklungsstudios fördert. In dem Moment, in dem wir die Frage stellen, ob Videospiele mehr sein können als ein Unterhaltungsmedium, schränken wir unseren Antwortspielraum bereits auf ein Maß ein, das dem Medium unrecht tut. Das gilt im positiven, wie die oben genannten Beispiele darstellen. Das gilt aber auch, wenn es darum geht, potenzielle Risiken zu erkennen, die mit Videospielen einhergehen könnten. Das betrifft Mechaniken, die Spielen zu eigen sind und daher nicht mit der Linse andere Medien betrachtet werden können, aber auch »Mitnahmeeffekte«, die Spiele betreffen, weil sie das größte Unterhaltungsmedium der Welt sind. Verbraucher- und Jugendschutzbehörden sind immer wieder gefragt, um potenziell toxische Monetarisierungspraktiken oder Werbemethoden zu evaluieren und gegebenenfalls einzudämmen. Auch Ideologien und Werte werden über Videospiele transportiert und weitergegeben. Selbst die bombastischsten unter den kommerziellen Blockbustern unterhalten nicht nur, sondern sie transportieren Botschaften, meist implizit, immer öfter auch ganz explizit. Die größten Ego-Shooter-Titel der Welt werden – ganz ähnlich wie viele Filme – in Kooperation mit dem US-amerikanischen Militär erstellt, nicht nur um authentisches Waffengefühl beim Abdrücken zu erzeugen, sondern auch um positive Konnotationen mit der Armee bei Spielenden zu setzen. Und schließlich haben auch demokratiefeindliche Gruppierungen das Potenzial von Videospielen als bei der Jugend besonders populäres Medium erkannt und versuchen, dieses zu nutzen, indem sie Spiele mit rechtsextremen oder queerfeindlichen Botschaften produzieren oder zu auf den ersten Blick harmlosen Gamingabenden mit politischen Figuren einladen.

Macht das Spiele gefährlicher als andere Medien? Sicherlich nicht. Doch solange wir Games in die Schublade des reinen Unterhaltungsmediums stecken – ob behütend oder belächelnd –, solange nehmen wir uns gesellschaftlich die Chance, ihre Potenziale voll zu nutzen und ihre Risiken effektiv zu bekämpfen. Denn Akteure wie Firmen, die den maximalen Profit erwirtschaften wollen, und identitäre Gruppen, die die Möglichkeiten des Mediums zur Rekrutierung erkannt haben, nutzen diese auch aus, wenn Zivilgesellschaft und Politik wegschauen – es liegt daher an uns, Videospiele ernst zu nehmen.

Dafür braucht es jedoch auch einen politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs, der akzeptiert, dass Spiele nicht nur Risiken, nicht nur Potenziale, sondern beides mitbringen. Und dieser Diskurs muss kritisch und wohlwollend gleichzeitig geschehen, eines von beiden reicht nicht aus.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.