Wer heute 40 ist, denkt vielleicht, die leichte Fernsehunterhaltung habe mit Thomas Gottschalk überhaupt erst anfangen. Ältere wissen es natürlich besser. Und Jüngere eigentlich auch. Denn gegen das ProSieben-Event »Wer stiehlt mir die Show?« von und mit Joachim »Joko« Winterscheidt ist »Wetten, dass…?!« ein Dino-Format. Das Fernsehspiel wurde 1981 von Spiele-Tüftler Frank Elstner erfunden, der übrigens eigentlich Timm Franz Maria Elstner heißt. Und schon Joachim »Blacky« Fuchsberger, Hans-Joachim »Kuli« Kulenkampff oder Hans »Hänschen« Rosenthal erzielten im Fernsehen der 1960 und 1970er Jahre mit vermeintlich banalen Kinderspielen in ARD und ZDF hohe Einschaltquoten. Warum diese Showmaster allesamt auf niedliche Kosenamen verpflichtet wurden, bleibt ein ungelöstes Rätsel der Fernsehgeschichte.

In der legendären Live-Show »Der goldene Schuß« mussten Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Wohnzimmer mit einer Armbrust auf eine Scheibe im Studio schießen. Der Moderator Lou van Burg, eigentlich: Louis van Weerdenburg, rief fröhlich »Kimme… Korn… Schuß!«. Er habe für eine »psychisch gestörte Nation« Fernsehen gemacht, erinnert sich Fuchsberger an seine Zeit als TV-Showmaster. Dass die WDR-Show »Nur nicht nervös werden«, mit der er die westdeutschen Zuschauer unterhielt, auf Spielideen basierte, die in den USA für die Psychiatrie entwickelt worden waren, wurde erst viel später bekannt. Lutz Dammbeck rollte diesen Zusammenhang 2015 in seiner ARTE-Dokumentation »Overgames« auf. Der lustige »Dalli Dalli«-Hans Rosenthal hatte seine gesamte Familie im Holocaust verloren, und der sonore Hans-Joachim »Kuli« Kulenkampff musste sich als junger Soldat im Weltkrieg seine erfrorenen Zehen selbst amputieren. Diese und andere dunkle Schichten in den Biografien der damals so beliebten Fernsehunterhalter legte Regina Schilling 2018 in ihrer vielfach preisgekrönten Fernsehdokumentation »Kulenkampffs Schuhe« offen. Rückblickend müssen wir feststellen, dass für die frühe Fernsehunterhaltung galt, was schon immer für das Theater stimmte: »In jeder guten Komödie steckt eine Tragödie.« Applaus, Applaus.

Inzwischen haben sich ARD und ZDF von solchen doppelbödigen Konstruktionen verabschiedet. Showkonzepte wie »Wünsch dir was«, wo aktuelle Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften in Familienexperimente umgemünzt wurden, wären heute beim ZDF kaum denkbar. Zu risikoreich, zu skandalträchtig. In der Sendersprache: zu wenig öffentlich-rechtlich. Grenzüberschreitende Spielanordnungen wie in einem Wohncontainer (»Big Brother«), einem Outdoor-Camp (»Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!«) oder einem Hotelkomplex auf Teneriffa (»Love Island«) überlässt man samt junger Zielgruppe lieber den sogenannten »Privaten«. Aber auch kompetitive Kochshows wie »The Taste«, die sich nicht nur mit Genuss, sondern auch mit Ehrgeiz auseinandersetzen, oder Gesangswettbewerbe wie »The Voice«, in denen Menschen mit Migrationshintergrund die gleichen Aufstiegschancen haben wie Biodeutsche, sucht man im linearen Programm von ARD und ZDF vergeblich. Aus Sicht der Sender rentieren sich die hohen Lizenzkosten nicht. Zu sehr sind diese Formate auf eine bestimmte Zielgruppe zugeschnitten: Auf die Jungen, die schon seit Langem kaum noch vor den Programmen der Öffentlich-Rechtlichen zu finden sind. Gesendet wird in den Hauptprogrammen von ARD und ZDF sicherheitshalber für die, die schon Kuli und Hansi und Blacky kannten. Der als solches beklagte »Generationenabriss« hat seinen Ursprung in den 1990er Jahren, als mit RTLplus und Sat.1 eine sehr eigenwillige und bei Lichte betrachtet wieder ziemlich neurotische Form der Unterhaltung ins Fernsehen schwappte. Es gibt eine Zuschauergeneration, die heute um die 40 ist und mit den täglichen Shows wie »Glücksrad« oder »Der Preis ist heiß« aufwuchs. Für so bizarre Sätze wie »Ich kaufe ein E und löse: Der Elefant im Porzellanladen!« konnte es schon mal ein Mittelklasseauto, eine Küchenmaschine, einen Farbfernseher und eine Luxushandcreme geben. Die Gewinne waren Produkte und die Show eine »Dauerwerbesendung« für die Hersteller, die die Konsumgüter gegen Nennung ihren Markennamens sponsorten. Das ging nur im werbefinanzierten Fernsehen, und wurde vor allem »drüben« in der DRR und später in den neuen Bundesländern besonders eifrig eingeschaltet. Viel spricht dafür, dass das Bild der Ostdeutschen von der westdeutschen Konsumgesellschaft von solchen Unterhaltungsshows erheblich mitgeprägt worden ist.

Die Vorstellungen, was »gute Fernsehunterhaltung« sein kann, drifteten notgedrungen auseinander. Als 1999 bei RTL die Rateshow »Wer wird Millionär?« Premiere hat, revolutionierte das so grundlegend den Showmarkt wie ein Jahr später die Containershow »Big Brother«. Während bei den traditionellen Wissensquizshows wie »Der große Preis« oder »Alles oder nichts« mit heiligem Ernst »echtes Fachwissen« abgefragt wurde, zählte bei »Wer wird Millionär?« nun »nur« noch die richtige Auswahl aus vier Möglichkeiten. Der Hauptgewinn von einer Millionen Mark konnte theoretisch also auch erraten werden. Wer das ausprobieren wollte, rief einfach so oft bei der gebührenpflichtigen Kandidatenhotline an, bis endlich einmal ausreichend viele Fragen richtig beantwortet waren. Lange hielt sich das Gerücht, dass RTL die Showeinsätze mit den Einnahmen aus der Hotline bestreiten konnte.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll informieren, bilden und unterhalten. Als unlängst der Medienstaatsvertrag novelliert wurde, geriet der Unterhaltungsauftrag aber ins Visier der Politik. Stand bisher im Gesetz »Auch Unterhaltung soll einem öffentlich-rechtlichen Angebot entsprechen« heißt es künftig: »Unterhaltung, die einem öffentlich-rechtlichen Profil entspricht, ist Teil des Auftrags«. Was im Umkehrschluss so ausgelegt werden kann, dass eine Show, die nicht informieren oder bilden will, sondern einfach nur unterhalten, nicht mehr Teil des Auftrags von ARD und ZDF sein kann. Darf künftig auch noch einfach so über »Verstehen Sie Spaß« gelacht werden? Wäre es erlaubt, noch einmal »Dingsda« zu spielen? Sind die Talkshows am Freitagabend, in denen Prominente ihr Publikum in das Wochenende plaudern, schon Informationsprogramme? Die kuscheligen Schlagerabende noch Traditionspflege?

Die öffentlich-rechtliche Unterhaltung ist in keinem guten Zustand. Denn sie ist derzeit vor allem so vieles nicht: nicht opulent, nicht spektakulär, nicht schadenfreudig, nicht gefährlich, nicht divers, nicht doppeldeutig. Das Modellformat heißt »Hirschhausens Quiz des Menschen« und wird von einem approbierten Doktor moderiert. Wo ist das circensische Wagnis? Wo die intellektuelle Überforderung? Wo der ausgestellte schlechte Geschmack? Immerhin wird in der Sabbelsendung »Inas Nacht« immer noch gesoffen.

Wer will, dass das Fernsehen auch in der digitalen nonlinearen Welt weiter existiert, muss ihm nicht nur seriöse Information und ein breites Bildungsangebot wünschen, sondern auch den Mut zu schlechter Unterhaltung. Alberne Formate, anarchische Ideen, Unvorhersehbares in jeder Form. Gerade weil das Spektakel nicht dem »öffentlich-rechtlichen Profil« entspricht, müsste es Teil des Auftrags sein. Die Fernsehgeschichte macht es vor: Früher war nicht alles besser. Aber die Fernsehunterhaltung schon.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.