Ende 2007 kam der Kulturmanager Berndt Schmidt als Intendant und Geschäftsführer an den Berliner Friedrichstadt-Palast, der zu den meistbesuchten Varieté-Bühnen Europas zählt. Mit 545.000 Gästen und Kartenerlösen von 27,2 Millionen Euro erreichte er im Jahr 2019 die besten Ergebnisse der hundertjährigen Bühnengeschichte des sogenannten »Palastes«. Er weiß also, wie gute und erfolgreiche Unterhaltung geht – Theresa Brüheim fragt nach.

Theresa Brüheim: Herr Schmidt, was macht gute Unterhaltung für Sie aus?

Berndt Schmidt: Unterhaltung bewegt sich in Deutschland noch stark im Kontext des Vergleichs zwischen sogenannter E- und U-Kultur. E-Kultur will den Menschen häufig den Spiegel vorhalten und zeigen, wie hässlich er ist. Sie lässt einen oft bedröppelt aus der Vorstellung gehen. Wir in der U-Kultur glauben bei dem, was wir machen, weiter an das Gute im Menschen – der optimistische Blick macht für mich gute Unterhaltung aus.

Als Intendant und Geschäftsführer des Friedrichstadt-Palastes haben Sie diesen aus den roten zurück in die schwarzen Zahlen geführt und sehr große Erfolge gefeiert. Was macht für Sie erfolgreiche Unterhaltung aus?

Ein Gradmesser ist die Begeisterung des Publikums. Wann ist das Publikum begeistert? – Wenn es positiv überrascht wird. Wenn ich etwas bekomme, was ich erwarte, dann kann das schön sein, aber es ist kein Begeisterungssturm. Wir versuchen, seitdem ich am Palast bin, die Leute immer wieder aufs Neue zu überraschen, Erwartungen zu brechen und so deutlich mitreißender zu sein, als sie gedacht hätten. Das ist seit 15 Jahren unser Rezept.

Das zeigt sich auch darin, dass wir wenig Referenzen aufnehmen, die es schon gab. In der Musical-Szene werden häufig Kino-Hits 20 Jahre später als Musical aufgeführt oder es wird auf große Klassiker wie »Romeo und Julia« Bezug genommen, um die dahintersteckende »Markenbekanntheit« mitzunehmen. Wir versuchen, immer etwas uraufzuführen und sind dabei mit aktuellen Themen eng verdrahtet. Unsere Produktionen geben den Leuten etwas, weil sie im Heute spielen. Das ist Teil des großen Erfolges. Ein Beispiel ist unsere Grand Show »ARISE«. Dabei geht es um einen Fotografen, der in eine tiefe Depression mit Todeswunsch verfällt, nachdem seine geliebte Muse stirbt. Das ist kein leichtes Thema für eine Unterhaltungsbühne. Aber unsere Grand Show zeigt, dass am Ende von Dunkelheit Licht wartet.

Die Idee stand 2019 schon. Dann kam Corona. Nach der pandemiebedingten Schließzeit passte das Stück natürlich sehr gut. Am Ende wartet Licht. Es besteht Hoffnung. Und dann kam im Februar 2022 noch der Angriffskrieg gegen die Ukraine hinzu. In diesem Rahmen war es für viele Zuschauerinnen und Zuschauer sehr berührend, diesen Kampf der Dunkelheit mit dem Licht zu sehen. Das macht unseren Erfolg aus.

Der ist aber nicht gottgegeben. Wenn Sie sich in Berlin umschauen, ist gerade ein großer Musical-Anbieter auf dem Rückzug. Auch das Theater am Potsdamer Platz steht oft leer, weil man es nicht mehr regelmäßig bespielt. Es ist gar nicht so ohne, zeitaktuelle Unterhaltung zu machen, die die Massen findet. Es gibt nicht so viele neue Stoffe auf den Bühnen. Insofern ist der Erfolg des Friedrichstadt-Palastes nicht so einfach, wie es von außen vielleicht aussieht.

In einem Interview mit dem »TheaterMagazin« haben Sie mal gesagt: »Gerade wenn ich Erfolg habe, muss ich etwas ändern!«.

Wenn man Erfolg hat, muss man dem Rezept, was man angewandt hat, zunehmend misstrauen. Denn immer das gleiche Rezept wird nicht zu neuen Begeisterungsstürmen führen. Es kommt eben immer der gleiche Kuchen dabei raus. Irgendwann haben sich die Leute daran satt gegessen. Es braucht neue Überraschungen und neue Begeisterung.

Welche gesellschaftliche und auch kulturelle Bedeutung kommt Unterhaltung zu?

Die Handlung von »ARISE« kann auf unseren Alltag übertragen werden: Ein Mensch, dem die Muse abhandenkommt, kann ein Symbol für vieles sein, z. B. für ein Burnout, den Verlust eines geliebten Menschen oder eine schwere Diagnose. Das sind alles Situationen, die einem erst mal den Stecker ziehen. Dann nicht aufzugeben, weiterzumachen, ans Gute im Menschen zu glauben, darauf kommt es an. In solchen Situationen kann die Unterhaltung, die sogenannte U-Kultur, inspirieren und Hoffnung geben.

Und trotzdem ist es Kunst, was wir tun! Ich bezeichne uns als Unterhaltungshochkultur. Wir feiern und zeigen das Schöne – die Schönheit der Welt, wie sie sein könnte, und die guten Seiten im Menschen. Im Moment macht das meist nur die U-Kultur. Nur weil es eine leichte Muße ist, ist es nicht seicht.

Das trifft auch auf unser Ballett zu: Vor zehn Jahren wurde das noch anders gesehen. Mittlerweile bestreiten viele bedeutende Ballettdirektorinnen und -direktoren von Hamburg bis Wien nicht mehr die herausragende Leistung unseres Balletts, sondern ganz im Gegenteil: Sie erkennen diese hoch an. In unserem Ballett haben alle Tänzerinnen und Tänzer eine klassische Ballettausbildung. Eine Tänzerin oder ein Tänzer eines Staatsballetts tritt vielleicht viermal im Monat auf die Bühne. Bei uns sind es bis zu 30-mal im Monat. Das ist richtig anstrengend. Und wir sind reich an Tanzsprachkultur. Wir haben viele Choreografinnen und Choreografen von Weltrang, die sich freuen, bei uns zu arbeiten. Auch das zeigt, dass der Bereich zwischen E- und U-Kultur ein bisschen weicher wird.

Ich denke, es ist auch eine Kunst an sich, Unterhaltung leicht aussehen zu lassen, obwohl so viel schwere Arbeit dahintersteckt – unabhängig von der Sparte. Aber gerade bei Schauspiel oder Ballett wird es insbesondere deutlich.

Oft ist Arroganz dabei, wenn man das eben gar nicht sehen möchte. Das deutsche Prinzip ist eher: Wenn es nicht wehtut, dann kann es keine Kunst sein. Gute Kunst muss wehtun – dahinter steht ein deutscher, preußischer Geist. Und wenn man von Herzen lacht, sich amüsiert oder eine gute Zeit hat, dann kann es ja keine Kunst sein. Dieses Verständnis ist antiquiert und überkommen.

Menschenveränderung zum Besseren ist ein Wesensmerkmal von Kunst. Schauen Sie nur auf zeitgemäße didaktische Konzepte für Bildung in Schulen – die funktionieren vor allem durch Begeisterung, die Herstellung eines Bezugs, durch Gefühle. Was gibt Faust I einem Jugendlichen? Sprachlich recht wenig. Deswegen ist da kein großer Impact dahinter, der etwas verändert. Leichte Kunst schafft das besser.

Aber natürlich ist leichte Kunst auch manchmal wirklich seicht. Und manchmal ist leichte Kunst wirklich schlecht gemacht. Aber hinter dem, was wir hier machen, vom Bühnenbild über das Kostüm bis zu Licht- und Sounddesign, steckt sehr viel Kunstverständnis. Dann kann das Endprodukt von Unterhaltung eben ein hochkulturelles Erlebnis sein.

Als Intendant des Friedrichstadt-Palastes positionieren Sie sich und Ihre Institution immer wieder politisch. Sei es im letzten Jahr gegen die pauschale Diskriminierung von Russinnen und Russen im Zuge des Angriffskrieges in der Ukraine oder auch mit Ihrer Kampagne »Respect Each Other«. Wie gelingt Ihnen dieser Spagat zwischen Unterhaltung und politischem Statement?

Er gelingt, weil es kein Spagat ist. Das Gute wird vor dem Hintergrund des Bösen erst sichtbar. Die Botschaft unserer Arbeit am Palast ist: Die Welt ist nicht so schlecht, sie könnte schön sein. Der Mensch ist nicht so schlecht, er könnte gut sein. Das ist politisch.

Wir zeigen Mut zum Schönen und Positiven. An vielen Stadttheatern ist das so nicht denkbar. Da ist Schönheit fast verpönt. Sie wird vielleicht kurz gezeigt, aber dann sofort gebrochen und konterkariert. Wir leben das Gegenteil dessen aus. Das ist politisch.

Wenn ich zeige, dass mit einem multiethischen und multisexuellen Ensemble, mit einem vielfarbigen Cast etwas so Schönes entsteht, dann ist das ein politisches Statement. Wir haben z. B. Menschen aus Russland und der Ukraine und Menschen, die auf der Krim geboren wurden, im Ensemble. Viele Konflikte der Welt sind in unserem Ensemble inhärent – und trotzdem gelingt es, gemeinsam etwas Schönes, Positives, Überwältigendes zu schaffen.

Das hat mich nach der Wahl der AfD in den Deutschen Bundestag dazu gebracht, mich schützend vor den nicht »urdeutschen« Teil unseres Ensembles zu stellen. Damals entstand ein Geist in Deutschland, dass Leute, die »anders aussehen«, einen Rechtfertigungsdruck bekommen haben. Ich habe gesehen: Unsere Welt im Palast funktioniert, aber draußen entsteht eine Welt, die das gefährdet und verhindern möchte. Deshalb waren politische Äußerungen naheliegend, aber sie waren gar nicht so fremd für eine Unterhaltungsbühne. Zwar machen das viele private Unterhaltungsbühnen nicht, weil sie niemanden verprellen möchten. Aber das sehe ich als Intendant dieser staatlichen Unterhaltungsbühne dezidiert anders: Unterhaltung muss sich anlegen und Haltung zeigen. Das war immer das, was ich hier wollte und will.

Der Friedrichstadt-Palast hat das größte Kinder- und Jugendensemble in Deutschland. Wie wird Unterhaltung am Palast in dieser Altersklasse gesehen? Wie nehmen Sie das wahr?

Unser Kinder- und Jugendensemble ist das beste Beispiel für die Vielfältigkeit einer Großstadt. Teil sind verschiedenste Glaubensrichtungen, Hautfarben und kulturelle Hintergründe. Sie bringen hier gemeinsam großartige Stücke auf die Bühne. Dabei lernen sie, dass das nur funktioniert, wenn wir uns gegenseitig respektieren. Konflikte, die Eltern und Großeltern ihnen vielleicht einimpfen, haben hier draußen zu bleiben. Wir akzeptieren uns als Menschen. Damit zeigen wir den Kids auch, dass viele behauptete Konflikte der Erwachsenen anachronistischer Bullshit sind. Auch das ist ein politisches Signal. In Deutschland gibt es Parteien und Denkrichtungen, die nicht sehen wollen, dass unterschiedlichste Menschen zusammen großartig funktionieren, wenn sie sich aufeinander einlassen. Wir sehen es auch bei den Gästen im Publikum: Das sind bei den Stücken des Kinder- und Jugendensemble eben Kinder und Jugendliche – vom Kita-Alter bis hin zu ca. 14 Jahren. Sie sind begeistert, wenn ihresgleichen auf der Bühne so ein enormes Stück zeigt. Das ist für Kinder und Jugendliche eine große Selbstermutigung.

Worin sehen Sie die Zukunft des Friedrichstadt-Palastes und seiner Unterhaltungsformate?

Was in der Zukunft funktionieren wird, kann ich heute noch gar nicht wissen. Das Einzige, was ich heute weiß, ist, dass die Rezepte, die ich heute habe, für die Zukunft die falschen sind. Es bleibt also nur, offen zu bleiben, die Welt zu beobachten, in sich hineinzuhören, sich mit Menschen zu vermischen, zu vernetzen, auszutauschen, die anders sind als man selbst, anders ticken, einen anderen Geschmack haben und ständig aus diesem Input unterschiedlichster Sichtweisen etwas herauszunehmen.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.