Folgt man dem Selbstbild prominenter Aufklärer, so war Streiten dann legitim und sogar notwendig, wenn die Verhältnisse der Gegenwart nicht mit den Grundsätzen der Vernunft und der Moral übereinstimmen und daher geändert werden sollten. Für das Rollenbild der Aufklärer war die öffentlich vorgebrachte Kritik mit dem Ziel der Verbesserung der Gesellschaft zum Wohl der Menschheit – meist im Sinn eines Appells an die öffentliche Meinung und eine wohlmeinende Obrigkeit – konstitutiv. Diese Kritik hatte an der Sache orientiert zu sein und sich auf Argumente zu stützen. Gerne beschworen Aufklärer dabei die Grenze zwischen vernunftgeleiteter Sachkritik einerseits und als illegitim deklarierten persönlichen Verunglimpfungen und Schmähungen andererseits, von denen man sich gerne öffentlich distanzierte.
Die Aufklärungsforschung hat dieses öffentliche Selbstbild der Aufklärer allzu lange unkritisch übernommen und zur Grundlage eines identifikatorischen Aufklärungsbildes gemacht, das bis heute in der politischen Öffentlichkeit gerne gepflegt wird und Aufklärung mit Wahrheit und Vernunft gleichsetzt. Auf diese Weise erscheinen die Aufklärer des 18. Jahrhunderts als Vorkämpfer von Normen und Wertvorstellungen, denen wir uns heute, im 21. Jahrhundert, verpflichtet fühlen. Ihrer eigenen Zeit, der feudal geprägten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, scheinen Aufklärer in diesem Verständnis hingegen nur mit Kritik, Distanz und Ablehnung zu begegnen. Insbesondere die damaligen Schaufenster der vornehmen Gesellschaft des Adels und der politischen und sozialen Eliten, die Fürstenhöfe, werden selten mit der Lebenswelt prominenter Aufklärer in Verbindung gebracht. Es genügen hofkritische Äußerungen zahlreicher Aufklärer, um mit ihnen den Eindruck zu erwecken, Aufklärer hätten nichts zu tun mit den Streitigkeiten um Rang- und Einfluss, den Intrigen und Konkurrenzkämpfen der Hofgesellschaft. Von dieser Illusion gilt es sich zu verabschieden.
Gerade für die typischen Formen des Streitens am Hof konnten Aufklärer eine prominente Rolle spielen. An einer Episode zu Beginn von Voltaires literarischer Karriere lässt sich dies besonders anschaulich demonstrieren. Voltaire war im 18. Jahrhundert geradezu die Verkörperung des Aufklärers in der Öffentlichkeit: ein freier Autor, der sich als philosophe – man könnte im heutigen Sprachgebrauch sagen: als Intellektueller – einen Namen machte und als solcher in Debatten intervenierte, der im Namen der Wahrheit und der Gerechtigkeit seine Stimme erhob und dabei bis in die Kreise der regierenden Fürsten und Monarchen auf Resonanz stieß.
Voltaire verdankt seine Karriere als prominente Figur in der französischen Öffentlichkeit aber in nicht geringem Maße seiner spitzen Feder, also seiner Fähigkeit zu eleganten Angriffen auf unliebsame Personen. Voltaires literarische Existenz nahm ihren Anfang am Hof in Sceaux des Herzogs du Maine, einem illegitimen Sohn Ludwigs XIV. Für die dortige Hofgesellschaft verfasste er seine erste Tragödie, den Oedipe, dessen erste Fassungen er dort vorlesen ließ. Voltaire war dem Herzog du Maine aber auch politisch zu Diensten. Als illegitimer Sohn Ludwigs XIV. stand der Herzog nach dem Tod seines Vaters in Opposition zum neuen Machthaber in Frankreich, dem Regenten Philipp II. von Orleans. Aufgrund dieser politischen Konstellation war Voltaires polemisches Talent eine gefragte Ressource zur Meinungsbildung der höfischen Öffentlichkeit, und Voltaire nutzte dieses Talent dazu, den Regenten mit der Kunst der Schmährede zu überziehen. Dazu zählten auch satirische Gedichte über die angebliche inzestuöse Verbindung des Regenten mit dessen Tochter, Marie Louise Élisabeth, Duchesse de Berry, deren Schwangerschaft Voltaire als Folge dieses Verhältnisses darstellte.
Voltaires Schmähschriften gegen Philipp II. von Orleans dienten ihm als Mittel zum Gunsterwerb seines Patrons und hatten wenig zu tun mit sachbezogener Kritik oder einem Kampf für die Durchsetzung von Wahrheit und Vernunft. Sie waren jedoch auch für Aufklärer wie Voltaire ein gebräuchliches Kommunikationsmittel, wenn es ihren Interessen oder denen ihrer Patrone dienlich war. Zugleich waren Schmähschriften wie diese ein durchaus typisches Mittel höfischer Auseinandersetzungen und Konkurrenzkämpfe, weshalb die Bestrafung zum einen eher symbolisch ausfiel – so ist die kurze Haftzeit in der Bastille zu deuten – und zum anderen weniger dem Autor Voltaire zur Last gelegt wurde als seinem Patron, der sich Voltaires literarisches Talent zunutze machte. Daher hatten diese Angriffe auch kein dauerhaftes Zerwürfnis zwischen dem Dichter und dem Regenten zur Folge. Stattdessen erhielt Voltaire anlässlich der Uraufführung in der Comédie-Française am 18. November 1718 vom Regenten eine Goldmedaille sowie eine Pension von 1.200 Livres zugesprochen. Voltaire wiederum widmete seine Tragödie Oedipe dessen Mutter, Liselotte von der Pfalz.
Diese Episode aus den Anfangsjahren der literarischen Karriere Voltaires erlaubt Rückschlüsse über die Fürstenhöfe als Arenen einer Streitkultur mit eigenen Regeln. Hofgesellschaften waren überaus empfänglich für literarische Spielarten der Satire, bei denen eine Trennung von Sachkritik und Personenkritik weder gewollt noch üblich war. Dabei war die Anwesenheitsgesellschaft des Hofes zugleich der Resonanzraum für unterschiedliche Medien, in denen Kritik und Schmährede anonym verbreitet werden konnten, wie satirische Gedichte, Pasquillen, Pamphlete. Diese literarischen Ausdrucksformen der Streitkultur waren fester Bestandteil von Konkurrenzkämpfen am Hof um Gunst, Einfluss, Ressourcen, Autorität und Aufmerksamkeit. Für zahlreiche Aufklärer war der Hof gerade aufgrund dieser Positionskämpfe eine interessante Arena, um sich als öffentliche Person zu etablieren: Autoren und philosophes konnten hier aufgrund ihrer literarischen Fähigkeiten Aufmerksamkeit und Protektion erlangen. Zugleich hatten sie sich aber damit abzufinden, den Streit der Granden des Hofes befeuern zu dürfen, nicht aber selbst als eigenständige Akteure wahrgenommen zu werden.