Wer jemals als Kind bei »Mensch ärgere dich nicht« die eigenen Eltern rausgeworfen hat, ahnt, warum sich das Brettspiel seit 110 Jahren am Markt hält. Es garantiert Spannung und Gefühlsausbrüche – und eröffnet den Kleinen die Möglichkeit, mit gleichen Chancen mit den Großen zu wetteifern. Neben den in die Jahre gekommenen Klassiker sind mittlerweile weniger betagte Erfolgsmodelle wie das Strategiespiel »Siedler von Catan« oder »Exit«-Spiele getreten, in denen strategisches Geschick oder ein Gemeinschaftserlebnis über die Lust am Würfelglück dominieren. Doch Josef Friedrich Schmidts großer Wurf in der Geschichte deutscher Brettspiele reizt noch immer. Seit der Erstveröffentlichung wurden mehr als 100 Millionen »Mensch ärgere dich nicht«-Bretter abgesetzt, ein Ende ist nicht abzusehen.

Ansonsten sind Riesenverkaufszahlen auf dem Spielwarenmarkt seltener als das Glück, dreimal in Folge eine Sechs zu würfeln. Gemessen an Kennzahlen zählt die Branche zu den kleineren. Die Summe, die die Endkunden in Deutschland für Brettspiele, Puppen oder Bausätze aller Hersteller insgesamt ausgeben, ist mit etwa 4,5 Milliarden Euro im Jahr geringer als der Umsatz, den in anderen Branchen ein großer Anbieter allein erzielt. Würde nur auf die am Umsatz bemessene wirtschaftliche Bedeutung abgestellt, ständen die Chancen schlecht, dass die Spielwarenbranche medial in den Vordergrund tritt.

Doch vor allem in der Vorweihnachtszeit ist das Gegenteil der Fall. Korrespondierend zur Umsatzverteilung im Jahresverlauf sind Spielwaren journalistische Saisonware, die Mehrzahl der Artikel erscheint im Winterhalbjahr. Vor Weihnachten stehen Geschenkekäufe an. Und für Kinder dürfte es kaum nachzuvollziehen sein, wenn Erwachsene sich mitunter schwertun zu erkennen, was gerade im Kinderzimmer im Trend liegt. Journalisten vermitteln dabei zwischen den Generationen – und stoßen auf eine eigentümliche Mischung aus Neuheiten, die sich als große Würfe erweisen, und Evergreens, die Eltern aus ihrer Kindheit kennen. »Mensch ärgere dich nicht« wird in den Medien fast nie erwähnt, der Klassiker besteht auch so, als ob die Figuren ständig weiter ziehen und nie auf den Endfeldern zum Stehen kommen.

Eine ganze Reihe von Spielwarenherstellern oder Produktlinien aus deren Sortimenten haben eine beachtliche Markenbekanntheit erlangt. Lego-Klemmbausteine, Barbie-Puppen, Ravensburger-Puzzles, Playmobil-Figuren, Märklin-Modelleisenbahnen oder Schleich-Tiere sind nur einige Beispiele. Gepaart damit, dass das Spiel heutiger Kinder Erinnerungen an die eigene Kindheit weckt, oder ein Spielhobby Erwachsener mit positiven Emotionen verknüpft ist, ergibt sich eine stattliche Aufmerksamkeit für Berichte über Spielwaren. Die zeigt sich regelmäßig in höheren Zugriffszahlen auf die im Netz veröffentlichten Artikel. Was gesamtwirtschaftlich eher am Rand des Spielfelds steht, rückt zeitweilig in den Mittelpunkt der Wahrnehmung – und das oft auch noch positiv konnotiert. Die Branche hat für ihr Ansehen einen Spielstein in der Hand, auf den Unternehmen anderer Wirtschaftszweige neidisch blicken können.

Medial geht die saisonale Hochkonjunktur der Spielwaren nach Weihnachten in die Verlängerung. Dafür sorgt Ende Januar die Spielwarenmesse in Nürnberg. Es erweist sich keineswegs als Hindernis, dass der Termin für das Endkundeninteresse an zeitnahen Spielwarenkäufen denkbar ungünstig liegt. Denn die Weihnachtsgeschenke sind zum Messezeitpunkt gerade erst gekauft und überreicht worden. Doch während andere Messen immer wieder mit der Abwanderung potenzieller Aussteller zu kämpfen haben, hat sich die Spielwarenmesse als Sammelpunkt für Kinder- und Hobbyartikel für die Berichterstattung bewährt.

Es bleiben die Themen, die aus dem vertrauten Spielfluss ausbrechen. Dazu zählen steigende Material- und Energiekosten oder gar Insolvenzen – und Produkte, die in der Entwicklung über das Ziel hinausschießen. Dazu zählte einst eine mit Technik gefüllte Puppe, die nicht nur zuhören und sprechen, sondern auch abhören konnte. Nach anfänglichem Jubel über die Talente der Puppe verschwand sie in dieser Beschaffenheit wieder aus dem Handel.

Aktuell beschäftigen Klagen über neue Mitspieler. Über chinesische Plattformen wie Temu gelangen Spielwaren auf den deutschen Markt, die etablierte Produkte preislich teils in frappierendem Maß unterbieten. Die Spielwelt ist kein abgeschlossenes Reich, eine Entwicklung, die mit Bekleidung und Elektrogeräten begann, macht vor ihr nicht halt. Tests ergaben, dass zahlreiche Artikel qualitativ nicht mithalten können, mitunter gesetzlichen Anforderungen nicht genügen. Aus Sicht nicht weniger heimischer Hersteller haben die unbekannten Anbieter auf Online-Plattformen eine unwillkommene Rolle übernommen – wie Spieler, die eine fünfte Figurenfarbe auf das »Mensch ärgere dich nicht«-Brett bringen. Für den Moment bleibt offen, ob etwas mehr an Regulierung gegen die Warenflut aus Fernost helfen wird. Anders als im Spiel hängt in der Realität das Wegdrängen einer Figur nicht nur vom Würfelglück ab.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2025.