Die Gedenkkultur in Frankreich entwickelte sich in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/1871. Unter der Schirmherrschaft des französischen Staates entstand eine republikanische Erinnerungskultur zu Ehren der gefallenen Soldaten und der zivilen Opfer, die die ganze Nation einbezog und diese bei Gedenkfeiern um Kriegsdenkmäler im ganzen Land zusammenbrachte.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde der Tag des Waffenstillstands, der 11. November, zum offiziellen Gedenktag, mit dem Frankreich seine gefallenen Soldaten und die zivilen Kriegsopfer ehrt. Im Jahr 1920 wurde an diesem Tag der unbekannte Soldat unter dem Triumphbogen in Paris beigesetzt, wo seitdem die Ewige Flamme brennt. Jeden Tag wird sie für alle sichtbar angefacht, häufig von Kriegsveteranen, aber auch durch die höchsten Vertreter des Staates. Seit 1945 wird an diesem Tag auch den Widerstandskämpfern und Opfern der Deportationen gedacht. Zwischen 1954 und 1962 folgten schließlich die Kolonialkriege in Indochina und in Nordafrika, insbesondere in Algerien, – in denen eine ganze Generation ihren Dienst leistete, darunter eine große Anzahl von Wehrpflichtigen.

Die Soldatinnen und Soldaten, die in jüngerer Zeit an Einsätzen der französischen Armee teilgenommen haben, erlangen immer mehr gesellschaftliche Sichtbarkeit. 2022 hat Präsident Emmanuel Macron erklärt, er wolle sicherstellen, dass »den Verwundeten und ihren Familien eine sofortige, langfristige und geeignete Fürsorge zugutekommt, wenn sie im Dienst verletzt oder getötet werden«. Für die Veteranenarbeit und die Erinnerungspolitik gegenwärtiger Konflikte ist das Ministerium für Streitkräfte und insbesondere die Staatssekretärin für Veteranen und Gedenken zuständig. Die Erinnerung an die Kriegsveteranen spielt dabei eine zentrale Rolle: Es soll ein republikanisches Gedenken gefördert werden, das die Franzosen vereint, offen für Europa und die Welt ist und den Verteidigungsgeist stärkt. Durch die Weitergabe der Werte des Militärs und der Veteranen – die dem Widerstand gegen die Barbarei, gegen die Unterdrückung und den Antisemitismus im Zweiten Weltkrieg entspringen – soll die Bindung zwischen den Streitkräften und der Nation gestärkt werden.

Der Staat unterstützt und bündelt die Arbeit der vielen nationalen und lokalen Gedenkvereine und Veteranenverbände, wie die des 1887 gegründeten Vereins »Souvenir Français«, sowie das Engagement von Privatpersonen. Durch Bildungsmaßnahmen und den Wehrkundeunterricht in Schulen wird vor allem ein junges Publikum angesprochen. Dabei steht oft das persönliche Engagement einzelner Bürger, ob Zivilisten oder Militärangehörige, im Vordergrund. Dank eines breiteren geschichtswissenschaftlichen Ansatzes besuchen immer mehr Menschen Gedenkstätten. So wurden kürzlich fast 100 französische Gedenkorte des Ersten Weltkrieges in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.

Darüber hinaus leisten das gemeinsame Gedenken mit den Partnern im Ausland und das friedliche Gedenken mit ehemaligen Kriegsgegnern einen wichtigen Beitrag zum diplomatischen Handeln Frankreichs. Die europäische Dimension spielt dabei eine immer wichtigere Rolle, insbesondere mit Deutschland. Beim Gedenken handelt es sich natürlich um ein zentrales Element der deutsch-französischen Versöhnung und der heutigen Zusammenarbeit. Gemeinsame Gedenkveranstaltungen geben uns immer wieder die Gelegenheit, uns einander anzunähern. Die bewegenden Gesten der Verbundenheit zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl in Verdun 1984 oder zwischen Emmanuel Macron und Frank-Walter Steinmeier auf dem Hartmannsweilerkopf 2017 werden regelmäßig von Deutschen und Franzosen bei Gedenkveranstaltungen nachgestellt, spontan organisiert von Privatpersonen oder Schülerinnen und Schülern mit ihren Lehrkräften. Beispielhaft ist hier die vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge geleistete Arbeit in Frankreich, wo der Verein die Gräber von fast einer Million Soldaten auf mehr als 1.000 Friedhöfen pflegt. In Deutschland beteiligen sich viele Franzosen am Gedenken und beziehen dabei ihre deutschen Freunde ein, insbesondere rund um die mehr als 200 französischen Gedenkstätten in Deutschland, wie Denkmäler und Grabmäler von Soldaten, Kriegsgefangenen und Deportierten.

Das Bedürfnis nach einer nationalen Erinnerungsarbeit zu Ehren der Soldatinnen und Soldaten sowie der zivilen Opfer und für den Zusammenhalt der Nation, das nach 1871 in Frankreich entstand, ist noch immer gegenwärtig. Doch ist es auch ermutigend zu sehen, wie sich eine europäische Bewegung des Gedenkens entwickelt. Der internationale Erfolg der letzten Invictus Games in Düsseldorf, an dem mehr als 20 Länder aus der ganzen Welt teilgenommen haben, stellt ein hervorragendes Beispiel für diese Bewegung dar.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.