Die Journalistin und Moderatorin Shelly Kupferberg wurde 1974 in Tel Aviv geboren, ist aber in Westberlin aufgewachsen, wo sie Publizistik, Theater- und Musikwissenschaften an der Freien Universität studierte. »Mein Vater war – wie jeder junge Mann in Israel – Soldat und hatte das große Pech, in zwei Kriege involviert gewesen zu sein, nämlich dem Sechstagekrieg 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Danach, also nach meiner Geburt, war er derart erschüttert, ja depressiv. Diese Verunsicherung hat wiederum meinen Großvater Walter veranlasst zu sagen: ›Kinder, geht einfach mal für ein Jahr raus in die Welt. Ihr habt ein kleines Kind, seid Ende 20. Werdet euch klar, was ihr eigentlich wollt.‹ Das Ergebnis war, ins deutschsprachige Ausland zu gehen, da mein Vater hebräisch-deutsch aufgewachsen war und meine Mutter ebenfalls ein bisschen Deutsch konnte. Sie hatten sich auch in dem damals neu eröffneten Goethe-Institut in Tel Aviv beim Deutschkurs kennengelernt und ineinander verliebt.«
Besagter Großvater, Walter Grab, hatte als Historiker noch viele Kolleginnen und Freunde in Westberlin, das war ein weiterer Grund, schließlich dorthin auszuwandern und zu bleiben. Die Verbindung nach Israel blieb trotzdem stark: »Ich war sicherlich bisher 80-mal in Israel, ich kenne das Land sehr gut, und dieses komplizierte Fleckchen Erde gehört mit all seinen Konflikten zu meinem Leben dazu.« Shelly Kupferberg wurde in Berlin schon früh bewusst, dass sie Jüdin ist: »Obwohl meine Eltern absolut nicht religiös sind, feierten wir kein Weihnachten oder andere christliche Feste. Wir feierten eben Chanukka und Pessach. Das war für uns Kinder sehr einschneidend: Wenn im Kindergarten der Weihnachtsschmuck gebastelt wurde, war ich immer betrübt, da wir keinen Weihnachtsbaum hatten, und meine Eltern sagten: ›Shelly, das ist nicht unsere Tradition, es gehört nicht zu unserer Kultur.‹ Als die Diskussion um einen Weihnachtsbaum wieder einmal aufkam, rief meine Mutter ihren Bruder, der in den USA lebt, an, und fragte ihn, was er an ihrer Stelle machen würde. Er hat dann den legendären Satz gesagt: ›Kauft ihr doch einen, sie wird schon keine Nonne deshalb werden.‹«
Was das Judentum für Deutschland bedeutete, wurde ihr ungefähr als Siebenjährige klar. Eine in ihren Augen uralte Dame aus der Nachbarschaft hielt sie eines Tages auf der Straße an und merkte an: »Sag deinen Eltern, wir waren keine Nazis!« – »Ich bin dann zu meinen Eltern gegangen und habe sie gefragt, was das bedeute – und dann fingen sie an, ein bisschen zu erzählen.«
Großen Anfeindungen sah sie sich als Kind nicht ausgesetzt: »Im Gegenteil. Wenn ich an meine Lehrerinnen und Lehrer denke in den 1980er und 1990er Jahren: Das waren alles mehr oder weniger 68er. Die waren sehr aufgeklärt, interessiert und offensiv mit diesem Thema. Oder aber sie hatten ein schlechtes Gewissen und haben uns eine Art Heiligenschein aufgesetzt, denn wir – meine Schwester und ich – waren meistens die einzigen Juden weit und breit. Es gab zwar auch Schulen und Einrichtungen mit vielen jüdischen Kindern, aber meine Eltern haben uns ganz bewusst nicht dorthin geschickt – wir sollten wie alle anderen Kinder aufwachsen.«
Bereits während ihres Studiums begann sie, für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu arbeiten. Neben zahlreichen Beiträgen für die ARD moderiert sie seit über 25 Jahren Kultur-, Literatur und Gesellschaftsmagazine und arbeitet als freie Redakteurin und Moderatorin für Deutschlandfunk Kultur, auf rbbKULTUR moderiert sie täglich Live-Kultursendungen und Konzertübertragungen.
Während ihrer beruflichen Laufbahn ist sie auch mit zahlreichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Kontakt gekommen, hat diese auf Lesereisen als Moderatorin begleitet oder als Gäste in ihren Radiosendungen begrüßt – darunter T.C. Boyle, Zeruya Shalev, Donna Leon, Martin Suter, Jonathan Safran Foer, Amos Oz, Arnon Grünberg, Otto de Kat oder Cornelia Funke. Ihre thematischen Schwerpunkte sind neben Kultur und Literatur Zivilgesellschaft, Demokratie und Partizipation, Diskriminierungs- sowie Migrationsthemen. In den letzten Jahren wurden auch Themen, wie Erinnerungskulturen und Provenienzforschung, für Shelly Kupferberg in ihrer Arbeit immer wichtiger.
Shelly Kupferberg ist nun selbst unter die Schriftstellerinnen gegangen: Am 24. August ist ihr dokumentarischer Roman bzw. biografisches Sachbuch »Isidor« über ihren Urgroßonkel im Diogenes Verlag erschienen. Sein Name war immer wieder in den Erzählungen ihres Großvaters Walter aufgetaucht. Jeden Sonntagmittag musste der begabte und intelligente Junge im Wiener Palais des Onkels erscheinen und wurde ein bisschen wie ein Zirkustier den anderen Gästen vorgeführt, indem ihm jedes Mal eine andere Wissensfrage vor versammelter Runde gestellt wurde.
Die Idee für das Buch über ihn kam ihr während einer von ihr moderierten internationalen Tagung zum Thema NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Sie wurde nachdenklich: »Was für Kunst hing wohl im prachtvollen Wiener Domizil meines Urgroßonkels? Mit dieser Frage begann meine Recherche und mündete in eine ganz andere Frage: ›Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn nichts von ihm übrig bleibt?‹«
Anhand von Familienbriefen, die sie auf dem Dachboden der Großeltern in Tel Aviv fand, von Fotos, alten Dokumenten und Archivfunden zeichnet Shelly Kupferberg die Konturen eines erstaunlichen Werdegangs nach, eines rasanten gesellschaftlichen Aufstiegs. Urgroßonkel Isidor war eine schillernde Figur, ein Macher und ein Lebemann, der den Luxus, die Kunst und besonders die Oper liebte. Auf ihrer Spurensuche, die sie von Ostgalizien nach Wien in die Archive der Stadt, von Budapest nach Hollywood und Tel Aviv führte, stieß Shelly Kupferberg auf Geschichten, die zwar einzigartig und trotzdem typisch sind für die Zeit nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich 1938.
Wie geht sie mit dem aktuellen Antisemitismus um? Welche Bedeutung hat er für sie als deutsche Jüdin? Shelly Kupferberg macht das rat- und sprachlos, wie so viele. »Gerade die Debatte um die aktuelle documenta-Ausstellung zeigt, wie schwach die jüdische Stimme ist. Wir sind ja auch nicht viele in diesem Land! Der Zentralrat der Juden nimmt als moralische Instanz eine wichtige, aber gleichzeitig auch undankbare Rolle ein, denn die Menschen sagen heute oft: Jetzt kommen die schon wieder, die sollen sich nicht so haben, die kriegen doch hier alles. Das hört man immer öfter. Ich fürchte, da ist nichts, was ›wiederaufkeimt‹, aber vieles, was heute nicht mehr nur gedacht, sondern wieder laut gesagt wird. Und wenn man sich die Isidor-Geschichte, auch wenn sie in Österreich spielt, zu Gemüte führt, muss einem klar werden: Der Reichtum, auf dem das heutige Deutschland beruht, hat viel mit Enteignung, Arisierung, Vernichtung und mit Zwangsarbeit zu tun; die Blutspur von damals ist verdammt lang und führt uns auch in die Gegenwart. Da ist vieles noch gar nicht aufgearbeitet worden, geschweige denn: restituiert. Gerade heutzutage scheint einiges in Schieflage geraten zu sein. Das zeigen auch Studien: Mit zunehmendem zeitlichem Abstand der Shoah und des Zweiten Weltkrieges sind immer mehr Menschen in Deutschland der Auffassung, ihre Familie wäre ebenso Opfer des Systems, des Krieges, der Verfolgung gewesen. Was in der Aufarbeitung der Schrecken des Holocaust absolut versäumt worden ist, ist die persönliche, private Aufarbeitung dessen, was in den eigenen Familien passierte. Darüber haben die wenigsten gesprochen. Verständlich, da es sich meist um unbequeme Tatsachen handelt. Sie können ja mal den Versuch unternehmen und sich in Ihrem Freundeskreis umhören! Es gibt viele großartige Menschen in diesem Land, keine Frage – das sind zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure, das sind Politikerinnen und Politiker sowie wache, engagierte Menschen, aber dadurch allein fühlt man sich leider als Jude noch nicht geschützt. Es gibt auch die anderen. Und die sind laut. Das zeigt der große Hass im Netz, und das zeigen letztlich auch Anschläge wie in Hanau und Halle. Das sage ich mit einer ganz großen Bitterkeit.«
Und so wünscht sich Shelly Kupferberg für die Zukunft: »Ich glaube, dass die Zeiten für uns alle grundsätzlich nicht einfacher werden. Ich denke, dass viele Menschen gerade das Gefühl haben, in einer Krisenhaftigkeit zu leben, der wir uns lange Zeit nicht mehr bewusst gewesen sind. Das macht das gesellschaftliche Klima nicht einfacher. Deshalb wünsche ich mir, dass wir versuchen, konstruktiv zu streiten und uns gegenseitig zuzuhören. Alles andere wird uns nicht weiterbringen.«