Heinrich Schliemann dürften viele kennen und ihn vor allem mit dem legendären Troja Homers oder dem Schatz des Priamos in Verbindung bringen. Dass der Kaufmann und Autodidakt in seiner zweiten Lebenshälfte weite Expeditionen in Asien unternommen hat, vermittelt der Herausgeber Umberto Pappalardo, Professor für Klassische Archäologie in Neapel, nun durch Schliemanns persönliche Briefe und Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1858 bis 1888, die bislang unveröffentlicht geblieben sind. Die 150 zeitgenössischen Illustrationen – handkolorierte Holzschnitte, sepiafarbene Fotografien von Ausgrabungsstätten, Tagebucheinträge im Original, Aquarelle, Skizzen und Lithografien – ergänzen die Texte, die das Sprachgenie Schliemann in der jeweiligen Sprache des Landes (sechs an der Zahl) aufgeschrieben hat, auf höchst anschauliche und fesselnde Weise. So begibt sich der Leser mit Schliemann, mit Anfang 30 Jahren bereits ein Millionär, auf vier Reisen nach Ägypten, in den Nahen Osten und nach Griechenland und erlebt fast hautnah seine Rastlosigkeit sowie seinen schier unbändigen Pioniergeist, seine Entdeckungsfreude, seinen Wissensdurst und seine absolute Homer-Gläubigkeit. Ob er damit wirklich glücklich geworden ist, erfährt der Leser nicht. Seine Aufzeichnungen dokumentieren seine innere Unruhe, ja geradezu Besessenheit von fremden Kulturen und ihrer Hinterlassenschaften – den Spaten und sein Tagebuch immer griffbereit. Wenn man Schliemanns Handschrift betrachtet und die verschiedenen Sprachen, dann lässt sich sehr gut nachvollziehen, warum erst jetzt diese Tagebuchaufzeichnungen zugänglich gemacht wurden. Die packende Lektüre dieses wahren Prachtbandes ist empfehlenswertes Kino für den Kopf: Mit einem herausragenden Dokumentarfilm über ein bewegtes Leben eines außergewöhnlichen Menschen, der vielmehr Globetrotter und stümperhafter Ausgräber als akribischer Wissenschaftler war, über seine Gefühle und seine Zeit, das 19. Jahrhundert.

Umberto Pappalardo. Heinrich Schliemanns Reisen. Tagebücher und Briefe aus Ägypten und dem Vorderen Orient. Zaberns Bildbände zur Archäologie Band 65. Darmstadt 2021

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.