Michael Jackson, R. Kelly oder Kevin Spacey sind berühmte Namen von Künstlern, die seit Jahren gecancelt sind. Doch was steht hinter dem Begriff »Cancel Culture«, der mittlerweile zu einem regelrechten Reizwort geworden ist?

Der Philosoph und Kulturstaatsminister a. D. Julian Nida-Rümelin geht in seinem neu erschienenen Buch »›Cancel Culture‹: Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken« dem Phänomen analytisch auf den Grund. Dabei wirft er zunächst einen Blick zurück: Denn Canceln ist eine uralte Praxis, die sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit zieht. Im römischen Imperium war die Verbannung unter anderem bei Kaisern ein beliebtes Instrument. Im Mittelalter oder in der Frühen Neuzeit konnte sie in Form von Ketzerprozessen sogar todbringend sein. Nida-Rümelin widmet sich auch der Cancel Culture in unterschiedlichen philosophischen Theorien, wie z. B. bei Platon, Aristoteles oder John Locke. Er geht auf erkenntnistheoretische Aspekte der Cancel Culture – unter anderen am Fall Galileo Galilei oder dem Irrtum des Descartes – ein. Im Fokus stehen auch demokratietheoretische Aspekte. Denn das macht der Autor schon zu Beginn klar: Bei diesem Essay handelt es sich um einen Versuch der Klärung von Begriffen und Argumenten, der über Cancel Culture im engeren Sinn hinausgeht, aber für Nida-Rümelin notwendig erscheint, um den aktuellen Gefährdungen der liberalen und sozialen Demokratie und ihren zivilkulturellen Grundlagen entgegenzutreten.

Zum Schluss widmet der Verfasser der politischen Urteilskraft als Alternative zur Cancel Culture ein eigenes Kapitel. Denn, so schreibt er: »Das Buch ist in Sorge um aktuelle kulturelle Entwicklungen geschrieben.« Und weiter: »Die Verteidigung von Humanismus und Aufklärung gegen Intoleranz, Ignoranz, Hetze und Diskursverweigerung ist erforderlich, um die Demokratie zu bewahren und zu stärken. Dieses Buch versteht sich als Beitrag dazu.« In diesem Sinne: Leseempfehlung!

Julian Nida-Rümelin. »Cancel Culture«. Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken. München 2023

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.