Die Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert und die neuen Möglichkeiten einer massenhaften Verbreitung von Fotografien in Druckerzeugnissen ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben unsere Wahrnehmung der Welt entscheidend verändert und erweitert. Vor etwa 20 Jahren wurde das Zeitalter der analogen Fotografie, das rund 150 Jahre umfasste, durch die digitale Fotografie abgelöst. Viele ältere Fotografen, die im Laufe ihres Lebens ein umfangreiches fotografisches Werk erschaffen haben, stehen heute vor der Frage, was mit ihren Tausenden von Negativen, Dias und Abzügen eines Tages geschehen soll. An welche Einrichtungen können sie sich wenden? Welche Institutionen fühlen sich verpflichtet, Fotografien zu bewahren? Die kommerziellen Bildagenturen können diese Aufgabe nicht leisten, weil die Kosten der konservatorisch fachgerechten Bewahrung, der sorgfältigen inhaltlichen Erschließung und Digitalisierung sowie der Speicherung und Zugänglichmachung über eine Bilddatenbank die zu erwartenden Erlöse aus der Vergabe von Bildnutzungsrechten im Regelfall erheblich überschreiten. Auch Museen übernehmen meist keine kompletten Archive eines Fotografen, sondern nur einzelne ausgewählte Originalabzüge.
Es sind die öffentlich-rechtlichen Archive, die sich dieser Erhaltungsaufgabe stellen müssen. Fotografien sind die wichtigsten visuellen Zeugnisse unserer jüngeren Vergangenheit. Sie erzählen uns in äußerst vielschichtiger Weise und mit großer Detailgetreue, wie unsere Welt aussah, was alles geschah und wie sich unsere Lebenswelten veränderten.
Dabei kommt dem Medium der analogen Fotografie für die Wissenschaften eine besondere Bedeutung zu, die durch ihre digitale Reproduktion zwar sinnvoll ergänzt, aber keinesfalls ersetzt werden kann. Analoge Fotografien haben eine eigene Biographie, die sich aus dem Zeitpunkt ihrer Herstellung, der angewandten Technik und dem Ziel ihrer Herstellung zusammensetzt. Ein Foto in der Hand zu halten und es genau zu studieren, es umzudrehen und die häufig vorhandenen Informationen auf seiner Rückseite auszuwerten, führt zu erheblich umfangreicheren Erkenntnissen als dessen Betrachtung in einer Datenbank.
In Erkenntnis der Bedeutung analoger Fotografien hat das Kunsthistorische Institut in Florenz 2009 eine Empfehlung zum Erhalt analoger Fotoarchive verfasst. In dieser »Florence Declaration« wird nachdrücklich auf die politische Aufgabe hingewiesen, analoge Fotoarchive als Instrumente und Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung und als Orte der Bewahrung eines bedeutenden kulturellen Erbes langfristig zu bewahren. Rund 900 Fachwissenschaftler, Archivare und Fotografen haben die Erklärung bisher unterzeichnet.
In Deutschland haben im Jahr 2011 Repräsentanten von Fotoverbänden und Fotoarchiven in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern auf Initiative der Zeitschrift »Fotonews« das »Netzwerk Fotoarchive e. V.« gegründet. Der Verein hat das Ziel, verschiedene Initiativen zum Erhalt analoger Fotografien zu bündeln und zu vernetzen sowie für Fotografen und Nachlassverwalter von Fotobeständen Informationen darüber zu vermitteln, welche Archive in Deutschland noch analoge Fotobestände übernehmen. Auf der Website des Netzwerks kann sich der Interessent genau darüber informieren, zu welchen Konditionen 25 bedeutende öffentlich-rechtliche Institutionen bereit sind, Fotokonvolute zu erwerben. Darunter sind das Bundesarchiv, viele Landesarchive und Landesmedienzentren, die Deutsche Fotothek Dresden, das Deutsche Museum in München und die Bildagentur bpk der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Alle Einrichtungen nennen ihre Sammlungsschwerpunkte, gegebenenfalls vorhandene inhaltliche Einschränkungen, die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen, sonstige Anforderungen sowie ihre Kontaktadressen.
Fotografien sind wichtige Zeugnisse unserer Vergangenheit und eines höchst innovativen technischen Mediums, aber sie sind, und das sollten wir nicht vergessen, auch eine bedeutende Ausdrucksform menschlicher Kreativität. Die gestiegene Wertschätzung der Fotografie als bedeutende Kreativleistung ihrer Urheber ist im deutschen Urheberrecht ablesbar. Nachdem jahrzehntelang nur die künstlerische Fotografie einem urheberrechtlichen Schutz als Lichtbildwerk und somit einer Schutzfrist von 70 Jahren post mortem unterlag, für Pressefotografien und andere Fotos aber deutlich kürzere Schutzfristen galten, beträgt der Urheberrechtsschutz seit 1995 in Umsetzung einer EU-Richtlinie einheitlich für nahezu alle Fotografien 70 Jahre post mortem.
Wir werden nicht alle analogen Fotografien erhalten können. Dafür ist die fachgerechte Bewahrung und Erschließung von Fotografien zu teuer. Wir werden auswählen müssen. Kriterien dafür können sein: die inhaltliche Bedeutung, die fotografische Qualität, die technische Qualität, das Vorhandensein von ausreichenden inhaltlichen Angaben, der Erhaltungszustand und vieles mehr.
Wichtig ist vor allem, dass die öffentliche Hand ihre Verantwortung erkennt und den Fotoarchiven der öffentlich-rechtlichen Institutionen die Mittel zur Verfügung stellt, die sie benötigen, um ihre analogen Fotobestände als visuelles Kulturerbe dauerhaft zu bewahren, zu erschließen und zugänglich zu machen sowie weitere bedeutende Fotokonvolute von Fotografen oder Nachlassverwaltern übernehmen zu können, um auch sie für die Nachwelt zu erhalten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01/2016.