Rahul Peter Das, 1954 in Haan als Sohn eines Inders und einer Deutschen geboren und in Kalkutta aufgewachsen, lehrte Indologie und Südasienkunde an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach seiner Emeritierung 2020 wurde sein Lehrstuhl im Zuge von Sparmaßnahmen gestrichen. Ludwig Greven spricht mit dem Indologen über wiederholte Kürzungen der Regionalwissenschaften, die damit verbundene Haltung gegenüber außereuropäischen Kulturen und die Folgen dessen – auch für Kriege und Politik.

Ludwig Greven: Der Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan endete nach 20 Jahre im Desaster. Hätte das vermieden werden können, wenn man mehr über das Land gewusst hätte?

Rahul Peter Das: Wenn man die ganze Region in kultureller Hinsicht anders betrachtet hätte, wäre man da vielleicht anders herangegangen. Das Sagen hatten die USA. Man hat schon in Vietnam und im Irak gesehen: Ihr Ziel waren schnelle militärische Erfolge.

Aber das funktioniert offensichtlich nicht, ohne sich näher mit dem jeweiligen Land, seinen Gegebenheiten, seiner Geschichte und Kultur zu beschäftigen.

Ja, vor allem auch deshalb, weil man mit der Bevölkerung interagieren muss. Wenn man wie in Afghanistan einen demokratischen Staat aufbauen will, muss man nicht nur mit den Eliten zusammenarbeiten. Dazu kommt, dass man kartografische Maßstäbe angelegt hat. Wir sind es gewohnt, die Welt nach Landkarten zu betrachten und sie in Staaten einzuteilen. Aber so ist die Welt nicht. Die geschichtlich gesehen relativ neuen Nationalstaaten prägen das westliche Denken und die Sichtweise auf die ganze Welt. Man hat Afghanistan als isolierte Einheit betrachtet, ohne zu bedenken, dass dieses Land wie andere in einen ethnisch, sprachlich und kulturell verbundenen Raum eingebettet ist. Verschärft wird das in Deutschland dadurch, dass man nicht mehr in der Geschichte lebt – wohl eine Folge des Zweiten Weltkriegs.

Alles, was davor war, auch in anderen Weltgegenden, wird ausgeblendet?

Geschichte beginnt anscheinend mit dem Dritten Reich. Wir leben aber in einem Geschichtskontinuum. Das prägt durchaus das Denken in vielen Teilen der Welt, alte Konflikte und Verbindungen spielen für die Politik, aber auch normale Menschen eine große Rolle. Sie bewegen sich in dieser Kultur und Geschichte; vieles, was man vom Westen da hinüberträgt, erscheint kulturell fremd. Hinzu kommt das Problem der Verständigung. Wir erreichen nur die Eliten, die meist über europäische Sprachen gebildet wurden. Das merken wir auch in Indien und Pakistan. Im Zuge der Demokratisierung kommen aber ganz andere Schichten an die Macht, die andere Vorstellungen und Begrifflichkeiten haben. Das fordert den Westen heraus.

In Deutschland werden jedoch die Regionalwissenschaften, die sich mit solchen Fragen beschäftigen, wie die von Ihnen entwickelte Südasienkunde, aber auch die Osteuropaforschung, wie man im Ukrainekrieg schmerzhaft erlebt, an den Universitäten abgebaut. Warum?

Das liegt wohl am Föderalismus. Was hat ein kleines Bundesland wie Sachsen-Anhalt, wo ich lange an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gelehrt habe, für ein Interesse an fernen Regionen? Das interessiert die Bundespolitik, nicht die Landespolitik. Aber das Land muss es finanzieren. Wenn es finanziell eng wird, wird da gespart, wo es für das einzelne Land nicht unbedingt wichtig ist. Ich ärgere mich darüber, weil es mein Fach betrifft, aber ich habe Verständnis dafür.

Viel gespart wird da aber nicht. Es sind ja nur kleine Fächer mit wenigen Lehrstühlen und Stellen.

Auch wenn nur wenige Studenten ausgebildet werden, ist der anteilige Aufwand hoch. Denn auch die müssen unterrichtet werden. Das ist kostspielig, selbst wenn es nur eine Professur gibt.

Gleichzeitig nimmt Asien eine immer größere Rolle ein, nicht nur China, sondern auch Indien – das inzwischen bevölkerungsreichste Land der Erde mit ebenfalls großem wirtschaftlichem Potenzial.

Unternehmen wollen Geschäfte machen. Kulturelle Einbettung erscheint unnötig.

Aber auch Unternehmen, die Waren verkaufen und investieren wollen, müssen sich da doch auskennen, nicht nur die Gesetze und politischen Verhältnisse, auch kulturell und sprachlich.

Dafür hat man Spezialisten oder heuert eher Ortskräfte an. Das bringt allerdings auch oft Konflikte mit sich, weil diese Menschen in ihrer Kultur leben. Und auch politisch und international prägt die jeweilige Kultur und Geschichte das Agieren der Regierungen. Man kann damit nicht umgehen ohne Bewusstsein für diesen Hintergrund.

Durch die Globalisierung und das Internet sind wir heute mit der ganzen Welt verbunden. Trotzdem, sagen Sie, fehlt es an Verständigung und an Verständnis für die jeweiligen Kulturen?

Wir leben in der Illusion, dass die ganze Welt im Grunde homogen ist und es nur ein bisschen Förderung braucht, bis alle so sind wie wir. Dieses Prinzip hat bisher die Interaktion mit anderen Ländern und Regionen bestimmt. Wenn wir jedoch merken, dass dort Menschen anders denken und agieren und ihnen nicht unbedingt wichtig ist, wonach wir uns richten, etwa Menschenrechte, das Retten des Klimas und der Welt; dass sie ganz andere Prioritäten haben; dass sie vielleicht sogar lieber Gegner umbringen, statt sich mit ihnen zu verständigen, ist das Erstaunen groß. Dafür muss erst mal ein Bewusstsein entstehen. Wir hatten in Europa eine lange Phase des Friedens und einer angeblichen Angleichung durch die EU und dachten, die ganze Welt würde sich daran orientieren. Woher soll da ein Problembewusstsein kommen?

Sie haben indische Wurzeln, sind in Kalkutta aufgewachsen, sind außerdem Indologe und Südasienwissenschaftler: Sehen Sie Ihre Aufgabe auch darin, diese andere Sichtweise zu vermitteln? Auch gegenüber der Politik?

Ganz klar. Das ist allerdings nicht nur bei Südasien ein Problem, sondern für außereuropäische Gebiete überhaupt. Als Kulturwissenschaftler erscheint mir: Wenn man überhaupt auf diese Gegenden schaut, dann eher durch die politische und ökonomische Brille. Man ordnet die Gebiete und Länder in Systeme ein. Aber ihre ganze Heterogenität wird nicht betrachtet. Und es werden nicht die Kenntnisse vermittelt, sich damit auseinanderzusetzen. Dazu gehören vor allem die Sprachen, da die jeweilige Begrifflichkeit das Denken prägt — wie auch in den Sozialwissenschaften, die zwar großes leisten, doch heute sehr angelsächsisch geprägt sind.

Sie sind eigentlich Indologe. Weshalb haben Sie die Südasienkunde geschaffen?

Indologen beschäftigen sich im Wesentlichen mit der alten Kultur und Literatur Südasiens, vornehmlich in Sanskrit. Die Referenzsprachen und Kulturen Südasiens haben sich jedoch gewandelt. Ein indischer Germanist hat mal gesagt, Deutschland hat uns die Gleichzeitigkeit verweigert, die Auseinandersetzung mit dem heutigen realen Indien. Das wollte ich ändern, sozialwissenschaftliche Elemente mit einbeziehend, aber mit der empirischen Methodik der Philologie.

Betrifft der Abbau an den Universitäten auch die Indologie?

Die wird leider sukzessive abgeschafft. Einzelne Lehrstühle werden zwar zugunsten der Südasienkunde umgewidmet, meistens aber einfach gestrichen. Das Muster scheint fast immer gleich zu sein: Es wird nicht nach inhaltlichen Kriterien umstrukturiert, sondern Lehrstühle, die frei werden, werden eingespart.

Damit verschwindet dann aber auch die ganze Forschung in dem Bereich.

Ja. Was weg ist, kommt nicht wieder. Kulturelle Kenntnisse gehen verloren.

Warum lehnen sich die Vertreter der sogenannten Kleinen Fächer und die Regionalwissenschaftler nicht dagegen auf?

Sie können sich nicht adäquat darstellen. Selbst ein Rektor fragte mich: Wofür brauchen wir zwei Fächer, Indologie und Südasienkunde, die sich mit dem gleichen Gegenstand befassen? Das ist so, als wenn man Klassische Philologie mit moderner Europawissenschaft gleichsetzte. Und man würde Europakunde auch nicht machen können ohne die verschiedenen Sprachen und Kulturen und ohne Sozialwissenschaften. Ich habe versucht, die unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen und philologischen Sichtweisen zu kombinieren. Das war etwas Neues. Dass ich zwei Konferenzen beim österreichischen Verteidigungsministerium mitgestalten würde, hätte ich mir als Philologe nie gedacht.

Worin liegen die wissenschaftlichen Unterschiede?

In anderen Fächerkulturen. In Deutschland definieren sich Wissenschaften in Abgrenzung zu anderen. Es sind, sichtbar durch die Venia Legendi, abgegrenzte Domänen, in die kein anderer hineinreden darf. Sowie ihre Mauern fallen, glaubt man, sei eine Wissenschaft weg. Das ist im angelsächsischen Raum anders. Dort gedeiht Interdisziplinarität eher.

Hat der Bologna-Prozess das Problem noch verschärft?

Bologna betrachte ich als verheerend. Das Einteilen in Studienmodule hat das ganzheitliche Denken verdrängt. Es geht bei den Regionalwissenschaften um große Kulturräume, in denen verschiedene Faktoren zusammenspielen. Das kann man nicht in sukzessiv abzuarbeitende kleine, streng definierte Blöcke aufteilen. Dazu kommt der ganze bürokratische Aufwand, besonders belastend für die kleinen Fächer mit geringem Personal. Eine Unmenge an Vorschriften macht es unmöglich, noch so zu unterrichten, wie es notwendig wäre.

Also sind Sie froh, nicht mehr unterrichten zu müssen?

Ich helfe noch mit Lehraufträgen in Halle und betreue Doktoranden.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.