Der Präsident des Bundesumweltamts Dirk Messner fordert im Interview mit Ludwig Greven einen noch schnelleren Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu mehr Nachhaltigkeit, um die Abhängigkeit von Russland zu verringern – und spricht über die Rolle der Kultur dabei. 

Ludwig Greven: Historische Erschütterungen können Gesellschaften zum Umdenken bringen. Vor 50 Jahren kam zum Bericht des Club of Rome der Ölpreisschock, der die beschriebenen Grenzen des Wachstums erstmals sehr handgreiflich machte. Die langfristige Wirkung war allerdings begrenzt. Nun erzwingt der Ukraine-Krieg eine Neuorientierung in der Energiepolitik, die wegen des Klimawandels ohnehin unerlässlich ist. Hoffen Sie diesmal auf einen bleibenden Lerneffekt? 

Dirk Messner: Der Bericht des Club of Rome war Ausgangspunkt der globalen Diskussion über Umweltschutz und Nachhaltigkeit, die wir seitdem führen. Seine Veröffentlichung fiel zusammen mit der ersten Weltumweltkonferenz in Stockholm. Beides war von herausragender Bedeutung. Man muss Probleme erst mal sichtbar machen und in den Köpfen der Menschen und der Entscheidungsträger verankern, bevor man sie Schritt für Schritt angehen kann. Umweltpolitik war vorher ein Randbereich. Heute steht Klimaneutralität bis Mitte des Jahrhunderts im Zentrum der nationalen, europäischen und globalen Politik und Wirtschaft. Die Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewegung hat viel bewegt. Dennoch können wir noch immer scheitern, den Erdsystemwandel zu verhindern. Da sind solche »Zeitenwenden« Gelegenheitsfenster und Risiko zugleich. 

Wo sehen Sie die Risiken? 

Bei dem Schock, den wir nun erleben, sehe ich zwei Trends. Der eine unterstützt die notwendige ökologische Transformation, der andere macht sie schwieriger. Plötzlich haben wir neben den Klimagründen auch noch sicherheits- und energiepolitische Argumente für eine Entkarbonisierung der Energieerzeugung, um Putin seine Kohle-, Öl- und Gaswaffen aus der Hand zu nehmen. Das wird wahrscheinlich zu einem schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien führen, als es bisher möglich schien. Da höre ich wenig Widerstände. Angesichts des Krieges wirken endlose Abstandsdiskussionen für Windräder irritierend drittrangig. Auf der anderen Seite ist viel Aufmerksamkeit nun auf den Krieg ausgerichtet – mit guten Gründen. Nur wenige fordern, jetzt mal halblang zu machen mit dem Klimaschutz. Aber: Durch den Krieg gibt es viele Dynamiken, die die enormen Herausforderungen der Dekarbonisierung behindern, aufschieben, erschweren. Wir diskutieren über NATO, Sicherheit, Bundeswehr, die neue Flüchtlingskrise. Das bindet politische Energie. Zudem lässt Geld sich nicht beliebig vermehren. Wir brauchen große öffentliche und private Investitionen, um Mobilität, Gebäude und die Infrastruktur zur Nachhaltigkeit umzubauen. Doch viele Ressorts und die Kommunen sind jetzt erst mal mit Krisenmanagement und der Flüchtlingsunterbringung beschäftigt. Viel Geld wird für Waffenlieferungen, humanitäre Hilfe und die Bundeswehr benötigt. Klimaschutz- und Wirtschaftsminister Robert Habeck muss durch die Welt reisen, um neue Gasquellen aufzutun und gleichzeitig den Umbau der gesamten Wirtschaft zur Klimaverträglichkeit voranbringen. Es könnte Sand in das Getriebe der Transformation kommen. Das müssen wir wissen, um gegensteuern zu können. 

Kann der Kohleausstieg nun doch nicht vorgezogen werden, wie es vor allem die Grünen wollten? 

Kurzfristig befürchte ich, dass wir ein paar Kröten schlucken müssen. Die Bundesregierung legt ambitionierte Gesetze vor, um Strom aus Wind und Sonne schnell zu entfesseln. Aber es kann sein, dass wir in einer kurzen Übergangszeit mehr Kohle verfeuern werden, weil Gas knapp wird. Wichtig ist, dass wir dabei das Ziel insgesamt nicht aus dem Blick verlieren. Trotz einiger skeptischer Stimmen, die die Gelegenheit nutzen, ihre alten Argumente gegen die Transformation wieder vorzubringen, sehe ich dafür zum Glück keine starken Anzeichen.  

Das wäre ja auch gefährlich: Der neue Bericht des Weltklimarats zeigt, dass der globale CO2-Ausstoß nach dem Coronaeinbruch nicht gesunken, sondern gestiegen ist und wir uns auf drei Grad Klima­erwärmung statt unter zwei Grad zubewegen.  

Das unterstreicht, dass wir trotz des Krieges keinen Spielraum haben, das Ziel zu verschieben, bis 2050 weltweit aus den fossilen Energien auszusteigen. Auch um uns von Russland unabhängig zu machen, müssen wir so schnell wie möglich aus Öl, Gas und Kohle raus. Man darf dabei aber natürlich die wirtschaftlichen und sozialen Folgen nicht vernachlässigen. Denn wir brauchen eine leistungsfähige Wirtschaft und sozialen Zusammenhalt, um den Wandel zur Klimaverträglichkeit zu bewältigen. Ein wirtschaftlich und politisch destabilisiertes Europa wird sich mit der Klimatransformation schwertun.   

Wäre ein generelles Tempolimit jetzt nicht überfällig? 

Das ist natürlich nur ein kleiner Baustein. Aber angesichts aller Versuche, unsere Abhängigkeit von den Fossilen zu reduzieren, frage ich mich: Wie kann man jetzt noch dagegen sein? Ein Tempolimit würde dazu beitragen, von russischem und generell von Öl und Gas wegzukommen – ohne zusätzliche Kosten. Kein Wunder, dass die große Mehrheit der Bevölkerung das auch so sieht. 

Anknüpfend an den Club of Rome: Brauchen wir weniger Wachstum und eine neue Kultur der Bescheidenheit und Nachhaltigkeit in den reichen Industrieländern, oder reicht ein verändertes Wachstum mit weniger Raubbau an der Natur?  

Es gibt inzwischen sehr klare wissenschaftliche Aussagen, welche Grenzen wir nicht überschreiten dürfen, damit das Erd- und Klimasystem nicht kippt. Es wird Teile der Wirtschaft geben, die wachsen müssen, um unsere Umweltprobleme zu lösen, andere werden schrumpfen oder verschwinden. So werden wir in den nächsten Jahren neue Formen der Mobilität entwickeln müssen, vor allem im öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Wir müssen die Gebäude sanieren und neue mit höheren Energiestandards errichten. Wir müssen die Industrie ökologisch modernisieren. Das sind alles enorme Investitionen, die Arbeitsplätze und grünes Wachstum schaffen. Alles, was mit fossilen Energien und Belastungen der Ökosysteme zu tun hat, muss zu Ende gehen. Wir müssen die Grenzen dessen, was unsere Erde verkraftet, in unser Wirtschaftssystem durch Ordnungspolitik einschreiben und entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Innerhalb dieses Rahmens ist viel Kreativität gefragt, Innovation möglich und notwendig und Wachstum denkbar, das die Grenzen des Erdsystems nicht überlastet. Die Wirtschaft wird sich in den kommenden Dekaden fundamental ändern.   

Wird die Bevölkerung da mitgehen? 

Was wir in den vergangenen 200 Jahren an Konsummodell entwickelt haben in den reicheren Ländern, ist doch nicht das Ende der Zivilisationsgeschichte. Immer mehr Menschen erkennen, dass Verfügbarkeit über Zeit, Chancen der eigenen Lebensgestaltung und eine nachhaltige Lebensweise ein großer Gewinn sind. Werte wie Vertrauen und Zusammenhalt der Gesellschaft bekommen einen höheren Stellenwert. Die Vorstellungen, was Lebensqualität und Wohlstand ausmacht, entwickeln sich weiter. Wir müssen die Parameter, die Zufriedenheit und Lebensqualität ausmachen, stärker ins Zentrum rücken. Wir lernen gerade durch die Aggression Russlands, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich sind. Das alles auf »Wachstum« und »BIP« zu reduzieren ist unterkomplex. Unsere jüngste Umweltbewusstseinsstudie, die wir alle zwei Jahre machen, zeigt, dass die Menschen die Klimakrise weiterhin sehr ernst nehmen und den Bemühungen dagegen hohe Priorität geben. Wenn man sie fragt, was für sie ein gelingendes Leben ausmacht, kommen viele Beschreibungen aus der Nachhaltigkeitsdebatte. Da wird eine andere Mobilität nicht nur akzeptiert, sondern eingefordert: mehr Investitionen in Radwege und Schienen. Auch dass in den Kantinen mehr vegetarische Kost angeboten wird. Das sind enorme Veränderungen. Die Politik muss das umsetzen und dafür Angebote schaffen. Vielleicht bekommen wir durch den Krieg die notwendigen Weichenstellungen sogar noch schneller hin.  

Was können Kunst und Kultur dazu beitragen? 

Wichtig ist zu zeigen, dass die Klimatransformation das Leben verbessert – für uns und die nächsten Generationen – statt Zumutung zu sein. Gerade in den Städten können Ästhetik, Lebensqualität und Klimaneutralität gut zusammengehen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth möchte darüber einen Diskurs mit den Kommunen beginnen. Darüber sind wir mit ihr intensiv im Austausch. Kunstschaffende haben schon immer wichtige Anstöße gegeben. Gerhart Hauptmann mit den »Webern« zur beginnenden Industrialisierung, Käthe Kollwitz zur sozialen Schieflage in den Stadtquartieren zu Beginn des letzten Jahrhunderts, Oskar Kokoschka und Egon Schiele zur Vereinsamung der Menschen. Wir überlegen gemeinsam mit Künstlern, was man heute machen kann, um die erforderlichen Veränderungen zu Nachhaltigkeit mit künstlerischen Mitteln auszudrücken.  

Sollen Orchester, Theaterensemble und Ausstellungen weiter durch die Welt reisen, auch wenn das mit hohem CO2-Ausstoß verbunden ist? 

Wenn wir bis 2050 null CO2 schaffen wollen, gilt das für alle Bereiche der Gesellschaft, auch für Künstler und Kultureinrichtungen, auch für Wissenschaftler und Universitäten – nicht zuletzt für das Umweltbundesamt. Wir haben dazu Studien veröffentlicht. Die Kultur gehört natürlich dazu: Wie kann man ein Museum, eine Theateraufführung, ein Kunstwerk klimaneutral gestalten? Jedes neue Museum, das gebaut wird, muss auf Klimaneutralität ausgerichtet werden. Ich bin selbst ein Weltenbummler und Weltenreisender. Ich war vor der Pandemie als Wissenschaftler in Sachen Umwelt und Klimaschutz an jedem zweiten Wochenende auf internationalen Konferenzen und Tagungen irgendwo auf der Welt. Auch das wird sich sicher ändern. 

Ab jetzt nur noch Videokonferenzen? 

Nein. Die erste Antwort ist, dass wir in Deutschland und Europa an Verkehrssystemen arbeiten, um uns vom Flugverkehr weitgehend zu verabschieden und er international emissionsfrei wird. Globale nachhaltige Verkehrsinfrastrukturen zu haben, sodass wir uns als Weltbevölkerung nicht nur virtuell vernetzen können, bleibt wichtig als Voraussetzung für eine globalen Kooperationskultur. Die zweite persönliche Antwort: Wir sollten in unseren privaten und beruflichen Entscheidungen Verantwortung für die Klimafolgen übernehmen. Von einem Museumsbesuch in Venedig zu einem Kulturevent nach New York zu fliegen, hielte ich für unangemessen. Es gibt obszön große, energie- und ressourcenintensive Autos: Wofür brauchen wir die? Ich würde aber auch keinen ökologischen Rigorismus predigen. Der moralische, belehrende Zeigefinger ist oft nicht hilfreich. Aber: Wir haben verdammt wenig Zeit für den Wandel. Da müssen wir uns ehrlich machen.   

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2022.