Zahlreiche Anlässe im Bereich der Liturgie und Seelsorge verlangen ein Nachdenken darüber, in welcher Form Sprache verwendet wird. Die Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, Anne Gidion, erklärt, wie sie Leichte Sprache definiert und wie sie sie nutzt.
Sandra Winzer: Frau Gidion, Gottesdienst ist öffentliche Kommunikation. So sagen Sie es in Ihrem Buch »Leichter beten«. Heutzutage gilt nicht mehr: je komplexer, desto wertvoller. Was bedeutet »Leichte Sprache« für Sie konkret?
Anne Gidion: Leichte Sprache ist zunächst eine Art der Einbeziehung. Menschen mit (geistiger) Behinderung oder kognitiven Schwierigkeiten und Menschen, die mit ihnen arbeiten, brauchen eine Sprache, die nicht nur lesbar, sondern auch im Hörverstehen zugänglich ist. Sie ist als Teil der UN-Menschenrechtskonvention auch Teil eines inklusiven Diskurses, einer inklusiven Gesellschaft. Leichte Sprache hat mit Gerechtigkeit zu tun. Als gleichsam christliche Forderung besagt sie, dass auch scheinbar Schwächere in der Gesellschaft adressiert und erreicht werden sollen. Wenn Menschen etwas, das sie direkt betrifft, nicht sofort verstehen können, geht etwas verloren. Das gilt auch für das Christentum.
Worum geht es genau in Ihrem Kontext?
Letztendlich geht es bei Leichter Sprache um die Teilhabe an der Gesellschaft mit all ihren Herausforderungen. Auch dafür braucht es eine zugängliche Sprache, die mittlerweile längst im öffentlichen Diskurs, bei Behörden und Medien, z. B. auf Homepages, verwendet wird. Wir verwenden klare, teils kürzere Sätze, wir versuchen, nur eine wesentliche Aussage in den Satz zu bringen und anschauliche Vergleiche zu nutzen. Ihren Ursprung hat Leichte Sprache im öffentlichen Diskurs von Menschen mit Verstehensschwierigkeiten. Bei so etwas wie Gebrauchsanweisungen ist das leicht einsichtig. Wenn ich eine Waschmaschine reparieren muss, muss ich das leicht verstehen können. In der Religion geht es um Themen wie Tod, Leben und Liebe.
Noch vor 15 Jahren hieß es: Religion = schwere Kost. Das hängt nicht mehr unmittelbar zusammen. Was hat sich in der Liturgie am meisten verändert?
In der Liturgie sind viele Rituale vorgegeben. Auch sie sind eine Form der Sprache, die Menschen überall auf der Welt verbindet – egal ob christlich-ökumenisch oder orthodox. Als Kind etwas gelernt zu haben, das man ein Leben lang behält und auch am Sterbebett noch erinnert, hängt stark mit der Sprachform zusammen. Was bei der Anleitung für einen Staubsauger hilfreich sein kann, muss aber für einen liturgischen Text nicht passen. Da entsteht eine interessante Spannung. Sprache kann dabei unterstützen, dass Gesagtes nicht verloren geht.
Leichte Sprache hilft also beim Erinnern?
Im Bereich der Religion geht es einerseits um das Erinnern: Wo kommen wir her? Was trägt uns? Aber es geht auch um konkrete Lebenssituationen, in denen ein Gebet helfen kann. Religion ist nicht für alle Menschen selbstverständlich. Bei Notfällen oder am Grab braucht es eine Sprache, die für die jeweils akut Betroffenen plausibel ist. Auch religiöse Menschen sind es nicht mehr unbedingt gewohnt zu beten. Aber sie kennen die überlieferten Gebete wie das Vaterunser oder vertraute Lieder. Bei anderen aber, die vielleicht nicht wissen, wie sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen sollen, kann Leichte Sprache helfen. In ihrer Direktheit ist sie eine Sprache des Herzens.
Wann halten Sie Leichte Sprache für angemessen. Und wann nicht?
Bei Gottesdiensten auf Fachtagungen mit Liturgieprofessorinnen und -professoren kann ich religiöses Fachwissen voraussetzen. Hier ist Leichte Sprache möglich, aber nicht notwendig. Im Bundestag aber sollte vor einiger Zeit eine Abgeordnete, die verstorben war, verabschiedet werden. Hier ging es um die Würdigung eines Menschen durch ihre Kolleginnen und Kollegen, die jedoch nicht vorwiegend religiös geprägt waren. In solchen Situationen ist eine Mischung aus geprägter und einfacherer Sprache gut. Es wird klar: Wir sprechen Gott an, bitten um etwas und danken dafür. Die klare Ordnung kann helfen. Hierbei ist es natürlich möglich, ein komplexes Kyrie eleison zu verwenden und einen Bibeltext nach Luther mit Leichter Sprache zu vermischen. Leichte Sprache wirkt dann zusätzlich als Scharnier, das vom Beten ins Hören führt. Variation ist mir dabei wichtig. Leichte Sprache kann die Klangfarbe ändern. Es darf aber auch nicht »zu viel« sein. Wenn ich konsequent das Passiv, Relativsätze oder Negationen vermeide, kann auch das ermüdend werden.
Sie sind unter anderem jahrelang Autorin von Rundfunkandachten gewesen. Kann Leichte Sprache für »andere« Gefühle sorgen?
Ja – aufgrund ihrer Direktheit. Kurze Sätze, viele Verben, weniger Substantive und kaum Relativsätze sorgen für ein Gefühl von »Geradeheraus«. Im Radio ist das sehr hilfreich. Hier sehen die Menschen mich nicht, können nicht vor- und zurückblättern, die Sätze gehen direkt ins Ohr. Eingängige Sprache ist hierbei wichtig. Bei Rundfunkandachten habe ich mit Leichter Sprache gute Erfahrungen gemacht. Man geht davon aus, dass unser Gehirn keine Negation versteht. Wenn ich sage: »In diesem Raum ist kein blauer Elefant«, denke ich trotzdem vor meinem inneren Auge automatisch an einen blauen Elefanten. Beim Hörverstehen könnte ich also z. B. etwa statt »Du sollst nicht töten« positiv formulieren: »Du sollst das Leben unterstützen«. Das bringt Menschen beim Hören in die positive Haltung.
»Wenn wir Dinge nicht plausibel machen, gehen sie verloren« – das haben Sie in einem Interview gesagt …
Ja. Es ist auch eine geistliche Frage zu sagen: Etwas ist zugänglich und steht nicht hinter einer Bildungsbezahlschranke. Es geht um geistliche Rede und um Gottesdienst ohne Stufen. Als Analogie zur Barrierefreiheit nutze ich Leichte Sprache als sprachliche Rampe – zum Beispiel für Menschen, die religiös ungeübt sind oder Deutsch nicht als Muttersprache haben und trotzdem Gottesdienst feiern wollen.
Nutzen Sie in einer Predigt eine andere Sprache als in der Seelsorge?
Hier kommt es darauf an, wer mein Gegenüber ist. Denn Seelsorge passiert zwischen Menschen. Es geht vor allem darum, Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken – Anteil zu nehmen. Darum, miteinander in Schwingung zu kommen, den Knoten zu lösen und eine Verbindung zu dem Menschen herzustellen. Hier entscheide ich nicht bewusst, welche Sprache ich wähle, das ergibt sich in der Verbindung mit der jeweiligen Person.
In einer immer komplexeren Welt wird Verständlichkeit immer bedeutender. Trotzdem wird Leichter Sprache schnell mangelnde Ästhetik oder Intellektualität vorgeworfen. Was entgegen Sie dem?
Nicht alles, was man nicht versteht, ist automatisch Poesie. Es kommt auch bei Leichter Sprache auf die Inhalte an. Man kann sowohl in komplexer als auch in Leichter Sprache schöne oder ganz furchtbare Dinge sagen. Bei Gebeten befürworte ich Leichte Sprache sehr – sie ist eine Sprache zum Einmal-Hören.
Auch die Art des Vortragens spielt dabei eine große Rolle. Viele Menschen beklagen eine antriebslose oder monotone Sprechart mancher Pastorinnen oder Pastoren. Brauchen sie ein Sprechtraining?
Auf jeden Fall. Ich habe mit Pastorinnen und Pastoren in der Ausbildung gearbeitet, Sprechtrainerinnen, Sprechtrainer und Schauspielende haben uns hierbei stark unterstützt, denn auch wir haben einen Auftrittsberuf. Wir können von Menschen lernen, deren Beruf es ist, öffentlich zu sprechen. Früher gab es diesbezüglich Widerstand. Angehende Pastorinnen und Pastoren sagten »Wir spielen doch kein Theater«. Mittlerweile hat es sich in der Ausbildung aber durchgesetzt: Sprechtraining gehört unbedingt dazu. Es ist klar: Die performative Seite muss man genauso trainieren wie die Exegese von Texten oder das Formulieren von Predigten.
Was braucht es heutzutage, um Menschen mit religiösen Inhalten zu erreichen?
Auf der einen Seite brauchen wir einen guten Zugang zur Kraft der Traditionen wie etwa dem Gesang. Singen erreicht die Seele noch einmal ganz anders als das geschriebene oder gesprochene Wort, Singen ist Gemeinschaft. Für diese Tradition brauchen wir Orte und Gelegenheiten. Außerdem brauchen wir neue und alte Lieder – gemischt und nicht gegeneinander ausgespielt. Und es braucht zugängliche biblische Texte, die z. B. aktuelle ethische Fragen von gutem Leben und Trost behandeln. Sie erzählen: Du bist nicht nur das, was du leistest, du bist nicht allein. Und am Ende kommt etwas Gutes auf dich zu. Du bist getröstet. Diese Botschaften haben Religionen seit jeher getragen – wir brauchen sie dringend.
Vielen Dank.