Europa ist ein Kontinent der sprachlichen und kulturellen Vielfalt. Unsere Verschiedenheit und unsere Zusammengehörigkeit im gemeinsamen europäischen Kulturraum stehen deshalb in einem stets neu auszutarierenden Spannungsverhältnis. Ohne ein aktives Bekenntnis zur kulturellen Prägung der Beziehungen reduziert sich Europa auf ein ökonomisches Projekt, das letztlich nur marktwirtschaftlichen Prinzipien folgt. Wer in den EU-Wahlprogrammen nach Aussagen zur Kulturpolitik für Europa gesucht hat, wird enttäuscht gewesen sein. Die Parteien sehen die Europäische Union offensichtlich noch immer vor allem als technokratisches Gebilde. Wer bei der SPD oder der CDU/CSU die Aussagen zur Kulturpolitik geprüft hat, findet höchstens Allerweltfloskeln. Bei der SPD wird Kultur weniger als Eigenwert gesehen, sondern vielmehr als Mittel zur Behandlung von Konflikten und als Instrument der Zivilgesellschaft. Die CDU erkennt zwar die Bedeutung für die Gesellschaft an, bezieht aber ihre Förderung mehr auf rechtliche Rahmenbedingungen wie Urheberrecht und Infrastrukturfragen der Kreativindustrie. Auch die Grünen betrachten die Arbeitsbedingungen für Kulturschaffende als primäre Aufgabe der Politik, insbesondere die Folgen der Künstlichen Intelligenz für Kreative werden thematisiert. Sowohl die Grünen als auch die Linken widmen dem Kapitel Erinnerungsarbeit besondere Aufmerksamkeit. Sie erweitern die Themen der Shoah um Aspekte der Kolonialgeschichte und Migration. Ein ausführliches Kapitel zur Kulturpolitik findet sich im Wahlprogramm der AfD. Sie propagiert eindeutig eine nationalistische Identitätspolitik und einen aggressiven Geschichtsrevisionismus und wendet sich gegen eine gemeinsame europäische Verantwortung für den Kulturraum Europa – bedrohliche Aspekte für ein gemeinsames Europa. Kultur lebt davon, dass sie sich austauscht, Anregungen aufnimmt, reflektiert und überrascht.

Die Ergebnisse der Europawahl 2024 zeigen einen deutlichen Rechtsruck und eine euroskeptische Einstellung. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien haben europaweit hinzugewonnen, auch in Deutschland, Frankreich und Italien. Wir stehen damit vor Entwicklungen in Europa, die von einer zunehmenden Abschottung und von Populismus geprägt sein werden. Der Erfolg dieser Widersprüchlichkeit speist sich vor allem aus der Angst vor Überfremdung und Globalisierung. Aber auch die aktuellen Auseinandersetzungen im Gaza-Konflikt haben eine Flut von Hass freigesetzt. Der Krieg in der Ukraine wiederum lässt die Verlässlichkeit unserer bisherigen Gewohnheiten und Traditionen als höchst unsicher erscheinen. Diese Zuspitzungen haben offensichtlich für ein gedeihliches Miteinander bislang kein gestaltendes Umfeld im Sinn einer gemeinsamen Praxis gefunden, sondern zu einem Rückzug in verschiedene Reservate geführt.

Unverzichtbar bleibt für eine solche gemeinsame Praxis ein verlässlicher Rahmen. Er kann nur durch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geschaffen werden. Daran müssen die Menschen die politischen Parteien messen. Entscheidend für das Gestalten ist die Teilhabe. Dazu gehört auch die Teilhabe für die Zugewanderten und ihre Folgegenerationen. Dabei kommt der Kultur eine wichtige Rolle zu. Schließlich ist unser Zusammenleben eine kulturelle Leistung. Die EU war bisher bestrebt, das gemeinsame kulturelle Erbe zu bewahren und viele Bereiche der EU-Politik wie Bildung, Sozialpolitik, Wissenschaft, Regionalpolitik mit den jeweiligen kulturellen Komponenten zu fördern. Dazu gehören das Europäische Jahr des Kulturerbes, die Wahl der Europäischen Kulturhauptstadt oder das Programm Kreatives Europa. Letzteres hat eine Programmlaufzeit von 2021 bis 2027. Es hat drei Segmente: Kultur, Media und den Cross-Sektor. Das Teilprogramm Kultur umfasst die Förderbereiche Kooperationsprojekte, Plattformen, Netzwerke und Literaturübersetzungen und wird mit insgesamt 800 Millionen Euro gefördert.

Das sind Möglichkeiten für Begegnungen auf europäischer Ebene. Die Programme bezogen sich allerdings stärker auf die großen Städte, bevorzugt auf Kreativwirtschaft und Netzwerkstrukturen, auf repräsentative Objekte und Prozesse; sie waren nicht nachhaltig, sie erreichten kaum neue Zielgruppen. Alarmierend war in diesem Zusammenhang auch die Schließung von Goethe-Instituten in Frankreich und Italien.

Programme sind dann besonders erfolgreich, wenn das persönliche Engagement gestärkt werden kann. Das gilt beispielsweise für das Erlernen von Fremdsprachen. Es gab 2019 den Vorschlag der EU, jeder Bürger der EU solle sich neben seiner Muttersprache in zwei europäischen Fremdsprachen verständigen können. Leider hat es dazu keine verpflichtende Entscheidung in den Schulsystemen gegeben. Es kann außerdem verknüpft werden mit einem nachhaltigen Schüleraustauschprogramm. Erfolgreich ist das Erasmus-Programm für Studierende. Schüleraustausch und Erasmus-Programm vermitteln jungen Menschen Wahlmöglichkeiten, die Europa erfahrbar machen und den späteren Lebensweg durch praktische Erfahrungen offener gestalten. Übersetzungsförderung als die »Kunst des Brückenbauens« ist ebenfalls ein wichtiges Bindeglied. Das gibt auch den Minderheiten eine Chance, dass ihre Stimme gehört wird. Attraktiv könnte auch eine grenzüberschreitende Form des Kulturpasses für junge Menschen sein. Aktivitäten wie Städtepartnerschaften sind ebenfalls aktive Begegnungsebenen. Die Mobilität von Kulturschaffenden sollte gezielt zu Kooperationsstrukturen ausgebaut werden. Den jeweiligen Grenzregionen sollte eine besondere Aufmerksamkeit zukommen. Insgesamt sollte bei Entwicklungen stärker das »flache Land« Berücksichtigung finden.

Das sind nur einige Beispiele, die Gestaltungsmöglichkeiten bieten und die Bürgerinnen und Bürger der EU selbst in die Verantwortung nehmen. Auch wenn ein solcher Austausch, der Menschen aus verschiedenen Ländern vernetzt, den Erfolg nicht garantiert, ohne ihn geht es auf keinen Fall.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2024.