Tom Cruise soll mit seinem neuen Blockbuster »Top Gun 2« nicht nur die Welt retten, sondern auch die Kinos. Am 26. Mai feiert der Film in Deutschland Premiere und die Kinobetreiber hoffen, dass er sie aus der pandemiebedingten Krise führt. Auch wenn die Lichtspielhäuser seit einigen Wochen wieder ohne Platzbeschränkungen und Masken ihr Publikum unterhalten können, ist die aktuelle Situation von der »Normalität« vor 2020 noch weit entfernt. 2021 hatten die Kinos einen Umsatzeinbruch von 80 Prozent und auch jetzt im Mai beträgt der Umsatzrückgang 40 Prozent. Dennoch belegen Statistiken aus der Filmförderungsanstalt (FFA), dass kaum ein Filmtheater schließen musste.

Im 1. Quartal 2022 haben die deutschen Kinos laut Comscore-Bericht – ein Unternehmen, das plattformübergreifend die Mediennutzung, auch in Kinos, analysiert – mit einem ungenügenden Besucherergebnis abgeschlossen. Es lag um fast 50 Prozent unter dem des Jahresauftakts 2019, als knapp 27,4 Millionen Besucher und gut 234 Millionen Euro Boxoffice gezählt worden sind. Insgesamt gingen im 1. Quartal nur etwa 14,5 Millionen Besucher in die Kinos, was einen Ticketumsatz von knapp 133 Millionen Euro bedeutet. Damit zeichnen sich bereits für das dritte Jahr rückläufige Ergebnisse ab. Zwar konnte der deutsche Kinomarkt einen Teil des Rückgangs wieder gut machen, den er Ende 2021 mit erneut verschärften Regularien, teilweisen Schließungen und einer weit verbreiteten Reserviertheit gegenüber größeren Veranstaltungen erlebt hatte. Dennoch war das Geschäft deutlich vom Erholungsniveau des Sommers 2021 entfernt. »Nach zwei Jahren Pandemie sind viele unabhängige Kinos und Verleiher finanziell ausgezehrt«, erläutert Christian Bräuer, Vorstandsvorsitzender der AG Kino, in einem medienpolitik.net-­Interview die aktuelle Situation bei den Art­house-Kinos.

Mit mehr Komfort und attraktiveren deutschen Filmen auf Publikumsfang

»Im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2019 zeigen sich vergleichbare Entwicklungen wie im Gesamtmarkt – wobei die Zahlen standortbezogen extrem unterschiedlich sind. Gerade bei Kinos mit nur einer oder zwei Leinwänden ist dies stark von der Filmbelieferung abhängig. Zudem waren die Auflagen regional bekanntlich sehr unterschiedlich. Generell lässt sich sagen: Nach einem starken 3. Quartal, in dem Filme wie «Nomadland» oder »Der Rausch« an ein Vorkrisenniveau anknüpften, kam der Erholungskurs mit der Deltawelle jäh zum Einbruch. Gerade das ältere Publikum blieb weg. Und die zeitweise wöchentlich wechselnden Coronaauflagen hatten nicht nur die Kinos jedes Mal aufs Neue herausgefordert, sondern das Publikum immer wieder verwirrt und den Kinobesuch für viele unattraktiv gemacht. In der Folge wurden Filmstarts verschoben – darunter gerade viele Arthousetitel.«

Doch die Pandemie führt auch zu Veränderungen, wie z. B. zu dem Trend, mit wenigen Top-Titeln einen Großteil der Besucher auf sich zu vereinen. Davon profitieren besonders die Multi­plexe. Zugleich funktionieren aber auch Events als Besuchermagnet. Doch viele unabhängige Produktionen ohne große Herausbringungsbudgets blieben meist weit unter ihrem Potenzial, so Bräuer. Die Branche benötige neue Ideen, wie diesen Filmen im Kontext der Flut audiovisueller Inhalte sowie der auf Hypes und Likes fokussierten Funktionsweise der sozialen Medien zu mehr Aufmerksamkeit verholfen werden können. Neben einem ganzheitlichen Ansatz zähle ein klarer Fokus auf die Publikumsentwicklung dazu. Mit ihrer Verwurzelung in der Nachbarschaft hätten die Programmkinos dazu eine gute Basis.

Neben den Coronaauflagen bereitet auch die veränderte Mediennutzung den Kinos Sorgen. Seit Corona verbringen die Menschen mehr Zeit vor dem Bildschirm. So betrug die durchschnittliche Bildschirmzeit Anfang des Jahres zehn Stunden pro Tag, 70 Stunden in der Woche. Dieser Wert ist seit Beginn der Pandemie vor zwei Jahren um zwei Stunden pro Tag gewachsen. Knapp ein Viertel der zusätzlichen Bildschirmzeit, im Durchschnitt 24 Minuten pro Tag zusätzlich, werden Videos, Filme oder Serien gestreamt – insgesamt fast eine Stunde am Tag (57 Minuten).

Wie man das Publikum wieder zurückgewinnen könne, das in den vergangenen Monaten sehr stark VoD-Plattformen genutzt hatte, war auch eines der Hauptthemen auf dem Kinokongress in Baden-Baden Mitte Mai. Attraktive Filme, technische Innovationen und spannende Konzepte sollen die Besucher »mit viel Herzblut« jeden Tag aufs Neue begeistern und vom Geschäftsmodell Kino überzeugen. »Wir sind wieder da und packen die Herausforderungen gemeinsam an«, sagte HDF-Kino-Vorstand Christine Berg auf dem Kongress.

Zuschauer, die von ihrem Fernseher nur noch schwer wegkommen, will man mit Luxus-Liegesesseln locken. Diese exquisiten Varianten von Kinosesseln finden sich in immer mehr Filmtheatern, inzwischen gibt es hier sogar schon Loungemöbel, damit es der Besucher noch bequemer hat. Vibrierende Sitze, die Action richtig miterleben lassen, sollen für ein realistischeres Fiktionserlebnis sorgen. Zudem wird die Projektionstechnik weiter perfektioniert und 200 Quadratmeter-Leinwände sollen beste Bildqualität gestochen scharf zeigen.

Marktanteil deutscher Kinofilme soll auf über 20 Prozent steigen

Dass es für die Kinos bisher nicht für ein besseres Ergebnis reichte, ist auch der Filmversorgung geschuldet. Nicht nur die US-Studios zeigten sich in den vergangenen Monaten beim Start der großen Blockbuster noch etwas verhalten. Auch der deutsche Film wurde mit Einbruch der Omikron-Welle gebremst  – und diverse Hochkaräter auf spätere Starttermine verschoben. Das lag auch darin begründet, dass es der Politik nicht gelang, für den Verleih eine ähnliche Risikoabsicherung zu schaffen wie für die Produktions- und Kinowirtschaft. Die Folgen lassen sich am deutschen Marktanteil im ersten Quartal ablesen. Der deutsche Besuchermillionär »Wunderschön« zählte zwar auf Platz 3 der Quartals-Hitliste zu den großen Gewinnern der letzten Monate, doch mehr als ungenügende 16 Prozent Besucheranteil erreichten deutsche Produktionen insgesamt nicht. »Wunderschön« sorgte laut Comscore alleine für 60 Prozent der gut 2,37 Millionen für deutsche Filme gelösten Tickets. Insgesamt wurden in den ersten drei Monaten 2022 rund ein Drittel (42 gegenüber 61) weniger deutsche Filme gestartet als im Vergleichszeitraum 2019.

»Wir glauben, dass der deutsche Film mehr Potenzial hat als nur einen Marktanteil von 20 Prozent«, sagte dazu die Chefin vom HDF Kino, dem Hauptverband Deutscher Filmtheater. Das Ziel müsse laut Berg darin bestehen, 35 Millionen Tickets für deutsche Filme zu verkaufen. Mit neuen Filmkomödien wie Fatih Akins »Rheingold« oder der Komödie »Liebesdings« mit Elyas M’Barek (»Fuck you Goethe«) soll das auch in diesem Jahr noch gelingen. Allerdings fordern die Kinobetreiber, wie in Baden-Baden zu hören war, dass sich die Erzählweise deutscher Filme ändern müsse, sie müssten schneller und actionreicher erzählt werden. So, wie es die Zuschauer aus vielen TV-Serien und auch TV-Krimis gewöhnt seien.

Auf der jüngsten CinemaCon in Las Vegas war häufig von kundiger Seite zu hören, dass der Abspielort Kino auch in Zukunft eine Leuchtturmfunktion haben werde. Eine Position, die vielen Kinobetreibern Mut machen wird. Sehr klar hat Martin Moszkowicz, Vorsitzender des Vorstandes der Constantin Film AG, bei dieser Gelegenheit auf die Wichtigkeit des deutschen Kinofilms für die deutschen Filmtheater hingewiesen. Um den wirtschaftlichen Erfolg der deutschen Kinos langfristig zu sichern, müsse es einen größeren Marktanteil an erfolgreichen deutschen Produktionen geben. Dies sei auch eine der wichtigsten Forderungen in der aktuellen Stellungnahme zur Novellierung des FFG, so Berg. »Die Zeit des Experimentierens scheint dem Ende entgegenzugehen. Das Kino ist immer noch der Goldstandard.«

Kritik an der Qualität vieler deutscher Kinofilme kommt auch von Christian Bräuer: »Die Frage ist«, so der Vorstandsvorsitzender der AG Kino, »warum wir überhaupt so viele Filme mit Kinomitteln produzieren und dann murren, dass sie ins Kino ›gezwungen‹ werden müssen. Dass manche Filme nicht so gut werden wie gedacht – das passiert. Aber dass nun wie am Fließband gescheitert wird, dass Teile der Branche fordern, Filme einfacher ins digitale Nirwana zu katapultieren, geht völlig am Kern des Problems vorbei. Streaming ist kein magischer Feenstaub, der aus Flops Hits macht. Auch im Fernsehmarkt gibt ja niemand gerne Geld für B-Ware aus.«

Das Grundproblem bleibe, so Bräuer, dass so viele Filme gefördert würden, ohne dass der Weg zum Publikum mitgedacht werde. Dabei sollte dies bereits in der Stoffentwicklung beginnen. Es sei ein holistischer Ansatz in der Förderung erforderlich. Im aktuellen FFG würden sich neun Ziele finden – das Publikum komme in keinem davon vor. »Ein queeres Filmdebüt braucht natürlich einen völlig anderen Ansatz in der Herausbringung als eine Slapstick-Komödie mit Promi-Cast. Daher sollten wir dem Beispiel anderer europä­ischer Länder folgen und Leitziele sowie Maßstäbe für Erfolg definieren, damit eine Vielfalt von Filmen auch eine Vielfalt im Publikum findet«, sagt Bräuer, der selbst mehrere Kinos betreibt. Zudem müsse sich die Auswertung und Transparenz der Zuschauerreichweite bei den Streamingangeboten ändern. »Kino ist ein Markt mit validen Zahlen. Wir können nicht wie Streamer jedes Jahr andere KPIs erfinden, um Erfolge zu suggerieren, die keine sind. Umsatz und verkaufte Tickets sind harte Zahlen, die von unabhängigen Stellen geprüft werden. Natürlich ist das manchmal niederschmetternd, wenn ein Film floppt, aber es ist eben auch Teil der Kinoauswertung, im Schlechten wie im Guten. Diese Transparenz brauchen wir auch bei den Streamern, um zu belastbaren Geschäftsmodellen für die Zukunft zu kommen.«

Filmförderung soll Leitziele sowie Maßstäbe für Erfolg definieren

Die Weiterentwicklung der Filmförderung ist eines der zentralen Themen der Filmwirtschaft. Gegenwärtig erfolgt zwischen der zuständigen Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, sowie den Fachverbänden der Filmwirtschaft die Abstimmung über die Novellierung des Filmförderungsgesetzes, die für 2024 geplant ist. Dabei geht es den Kinoverbänden vor allem um zwei wesentliche Änderungen: Zum einen soll durch eine zielgerichtete, kritischere und teilweise anders strukturierte Förderung die Gesamtanzahl deutscher Kinofilme verringert, der Anteil, der massenattraktiv ist, jedoch ausgebaut werden. Dazu müsste unter anderem auch die Förderung einzelner Filme erhöht werden. Zum anderen soll das sogenannte Auswertungsfenster verändert und so auch die Exklusivität von Filmen für das Kino, neu geregelt werden. »Sind es noch sechs Monate, wie im FFG verankert oder muss es nicht einen flexibleren Umgang mit den Sperrfristen für deutsche Filme geben?« Das sei z. B. die Auffassung des HDF Kino. Flexibler bedeute, dass die Sperrfrist generell verkürzt werden könnte, wenn es eine Branchenvereinbarung gäbe, die alle in Deutschland gestarteten Filme behandele. Diese könnte auch berücksichtigen, dass Filme, die in den ersten Wochen im Kino beim Publikum nicht ankommen, ihren Weg früher in eine andere Auswertungsform finden, sagt Christine Berg.

Bei der Filmförderung sollte man dem Beispiel anderer europäischer Länder folgen und Leitziele sowie Maßstäbe für Erfolg definieren, damit eine Vielfalt von Filmen auch eine Vielfalt im Publikum findet, merkt dazu Christian Bräuer an. »In Anbetracht der rasanten Marktveränderungen in den letzten Jahren müssen bei der Novellierung Erhalt und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kinos die leitenden Handlungsparameter sein. Dazu zählen faire Wettbewerbsbedingungen mit einem Kinofenster für alle dort startenden Filme, die auf Basis einer Branchenvereinbarung für alle Marktbeteiligten gelten. Dazu bedarf es einer Strukturreform der Bundesfilmförderung, die die unterschiedlichen Förderinstrumente zu einer Filmförderung aus einem Guss verwebt. Erforderlich ist dafür ein ganzheitlicher Ansatz, der die kreativen und distributiven Gewerke im Film besser verzahnt. Anstelle einer einseitigen Produktionszentrierung, die allein auf Finanzierung, Studioauslastung und Territorialeffekte als Erfolgsparameter setzt, sollte ein ganzheitlicher Förderfokus von der Ideenentwicklung bis zum Start im Kino nach dem Prinzip ›Klasse statt Masse‹ treten. Das Ziel muss nicht nur die dauerhafte Existenzsicherung möglichst vieler Marktakteure sein, sondern den Kinofilm in all seiner Vielfalt langfristig zu stärken und weitere Publikumsgruppen für die Kunstform zu begeistern.«

Bei allen Zukunftshoffnungen und strukturellen Überlegungen benötigen die Kinos aktuell weitere finanzielle Unterstützung, um die Krise zu meistern, von den Filmförderern und der Staatsministerin Claudia Roth. Auch wenn man jetzt vor allem nach vorne schaue, müsse man sich natürlich weiterhin mit den wirtschaftlichen Folgen der letzten zwei Jahre auseinandersetzen, so Christine Berg auf dem Kongress Kino 2022. Es sei kein Geheimnis, dass der Neustart ohne weitere Unterstützung seitens der Politik nicht zu stemmen sei. Der Kostendruck und Investitionsstau seien hoch. Der Vorstand des HDF Kino fordert deshalb »eine verlässliche Kinoförderung«, die alle Kinos unterstütze. Das Zukunftsprogramm Kino müsse nicht nur aufgestockt, sondern ausgeweitet werden. Die Nachbesserung und Fortführung des Zukunftsprogramms Kino werde entscheidend für den Fortbestand vieler Kinos sein, stellt dazu Christian Bräuer fest.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.