Wir haben uns in diesem Saal versammelt, damit der Deutsche Kulturrat den Deutschen Kulturpolitikpreis verleihen kann – das wissen wir alle, darum sind wir alle hier. Was vermutlich nicht alle unter uns wissen – und vielleicht sogar nur die wenigsten –, ist, dass wir uns nicht nur im Humboldt-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz versammeln, sondern auch im ehemaligen Sitzungssaal der ehemaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Als solcher diente dieser Saal seit seiner Errichtung 1914 bis zu seiner Zerstörung 1944 – wir versammeln uns also im vormaligen Sitzungssaal der vormaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften und damit sind wir auch schon bei dem Thema, für das sich Bénédicte Savoy seit vielen Jahren engagiert, bei dem Thema Kunstraub und dem Umgang mit geraubter Kunst; für ihr Engagement zeichnet der Deutsche Kulturrat die in Berlin und Paris lehrende Kunsthistorikerin heute mit dem diesjährigen Deutschen Kulturpolitikpreis aus. Denn auch die vormals Preußische Akademie der Wissenschaften beschäftigte sich mit geraubter Kunst und stützte sich in ihren Forschungen auf Raubkunst – ich werde nie vergessen, wie mir, als ich vor einigen Jahren Grabhöhlen der Oase Turfan am uigurischen Teil der Seidenstraße besuchte, die Spuren der Kreissäge auffielen, mit denen die deutschen Turfanexpeditionen offenbar die Gemälde aus der Wand brachen, die für den Transport in das Berliner Völkerkundemuseum vorgesehen waren. Auch wenn man bis heute lesen kann, dass der Berliner Museumsmitarbeiter Theodor Bartus eine Methode entwickelt habe, »Wandmalereien und Inschriften weitgehend unbeschädigt von Höhlen- und Felswänden sowie von Ruinen abzulösen«, sehe ich genau die Linien der Kreissäge vor mir, deren Kreuzungen tief in die an der Wand verbliebenen Malereien einschneiden. In diesen nach damaligen Maßstäben mehr oder weniger legalen und seit der zweiten Expedition vom Kaiser selbst großzügig finanzierten Kunstraub waren nicht nur die heutigen Staatlichen Museen Berlin involviert, sondern eben auch die vormals Preußische Akademie und das vormals hier befindliche alte Akademiegebäude, in dem die vollgepackten Kisten mit Textfragmenten ankamen, die Mitarbeitende der Akademie seit 1908 Stück für Stück, Fetzen für Fetzen in den Abhandlungen und sonstigen Veröffentlichungen der Institution edierten. Es gibt nicht nur Raubkunst, sondern auch Raubtexte und die vormals Preußische, heute Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, in die Bénédicte Savoy 2016 als Mitglied aufgenommen wurde, ist in solche Raubzüge genauso verwickelt wie andere Berliner Institutionen, deren hinhaltende und abwiegelnde Politik in den 20 Jahren zwischen 1965 und 1985 Bénédicte Savoy in ihrem jüngsten großen Buch »Afrikas Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage« von 2021 am Beispiel der Stiftung Preußischer Kulturbesitz beschrieben hat. 

Die aus der Sicht von Menschen an der Seidenstraße vermutlich traurige Ironie der Geschichte ist, dass ein ganzer Teil der nach Berlin verbrachten Wandmalereien und Texte im Bombenkrieg zerstört wurde und ein weiterer Teil nach 1945 selbst wiederum geraubt und in die ehemalige Sowjetunion verbracht wurde. Kunstraub gehörte eben zur Physiognomie gerade auch des gebildeten Europäers. Mich hat an der Art, wie Bénédicte Savoy das Thema Kunstraub und Raubkunst behandelt, immer beeindruckt, dass sie nichts und niemanden ausnimmt, nichts und niemanden entschuldigt, sondern nüchtern und kühl untersucht, was geschehen ist. Nichts und niemanden ausnimmt – ihre einschlägigen Studien beginnen mit der 2003 in Paris erschienenen Dissertation unter dem Titel »Patrimoine annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800«, in der sie erstmals die Geschichte des sogenannten Napoleonischen Kunstraubs in Deutschland rekonstruiert und die Umbrüche analysiert, die der Kunstraub auf beiden Seiten ausgelöst hat – längst ein Standardwerk. Bénédicte Savoy nimmt nichts und niemanden aus und so nimmt die in Paris geborene studierte Germanistin und Kunsthistorikerin, die in Westberlin zur Schule gegangen ist und im wiedereinigten Berlin ebenso lehrt wie in Paris, eben auch die französischen Museen wie Sammlungen nicht aus, wenn sie vollständige Restitution von Raubkunst fordert – beispielsweise in ihrem mit dem senegalesischen Soziologen Felwine Sarr erarbeiteten, von Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Man erschrickt, wenn man beim Lesen dieses in französischer und englischer Sprache im Internet zugänglichen Berichtes feststellt, dass bereits in der Antike Kunstraub scharf verurteilt wurde und 1798 der sächsische Schriftsteller Karl Heinrich Heydenreich in einem Aufsatz unumwunden fragte: »Darf der Sieger einem überwundenen Volke Werke der Litteratur und Kunst entreißen? Eine völkerrechtliche Quästion« und die Kriegsgefangenschaft von Kunstobjekten als »Verbrechen gegen die Menschheit« bezeichnete. 

Ich habe mich bei der Vorbereitung dieser Laudatio gefragt, ob es vielleicht daran liegt, dass Bénédicte Savoy sowohl in Paris wie in Berlin zu Hause ist, beide Welten, die französische und die deutsche, von innen her kennt und zugleich von außen sieht, West- und Ostberlin kennenlernte, zwischen den akademischen Institutionen beider Länder pendelt und die verbindenden wie das Berliner Centre Marc Bloch bestens kennt, dass sie nichts und niemanden ausnimmt, in kritischer Distanz Museumsverwaltungen, Regierungen und Öffentlichkeiten raten kann, radikale Konsequenzen aus einer bitteren Geschichte von Kunstraub gegenüber anderen Ländern zu ziehen, aber eben auch – wie in ihrem Büchlein »Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912–1931« von 2011 die Histoire croisée zwischen Nationen, Ländern, Staaten kritisch rekonstruieren und aufhellen kann, in den allermeisten Fällen und gerade bei den zuletzt genannten beiden Büchern aufgrund von aufregenden Quellenfunden und gründlicher Arbeit an diesen Quellen. Bénédicte Savoy schwimmt nicht auf einer Welle wohlfeiler postkolonialer Rhetorik, sondern schwimmt gleichsam bei ihren Recherchen in den Archiven unter den Wellen bestimmter Moden hindurch. Und hat eine lange Geschichte mit den Museen, wie ihr schönes autobiografisches Büchlein »Museen. Eine Kindheitserinnerung« von 2019 zeigt. 

Bénédicte Savoy wird heute für ihr außerordentliches wissenschaftliches wie kulturpolitisches Engagement mit Blick auf den Kunstraub und die Restitution von Kulturgut ausgezeichnet, obwohl sich darin ihr Engagement als Kunst- und Wissenshistorikerin gewiss nicht erschöpft – ich erinnere nur beispielhaft an ihren 2006 erschienenen Band »Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–1815« und alle anderen Studien zu Geschichte und Gegenwart von Museen, an die von ihr kuratierten Ausstellungen wie beispielsweise »Napoléon und Europa. Traum und Trauma« in der Bundeskunsthalle Bonn 2010 gemeinsam mit Yann Potin, »Les frères Humboldt. L’Europe de l’esprit« im Observatoire de Paris 2014 gemeinsam mit David Blankenstein und »Museumsvisionen. Der Wettbewerb zur Erweiterung der Berliner Museumsinsel 1883/84« in der Bauakademie Berlin 2015 gemeinsam mit Hans-Dieter Nägelke und Nikolaus Bernau. 

Warum Bénédicte Savoy heute mit einem Preis für ihr Engagement in Sachen Raubkunst und Restitution ausgezeichnet wird, ist eigentlich bei einem so wirkmächtigen »public intellectuel« offenkundig und muss nicht lange begründet werden. Aber ich möchte nicht schließen, ohne abschließend einen persönlichen Eindruck von der Preisträgerin formuliert zu haben, der auf eine Charaktereigenschaft führt, die mich immer wieder sehr beeindruckt: Obwohl Bénédicte Savoy durchaus sehr pointiert formulieren kann – und beispielsweise mit Blick auf das Berliner Humboldt Forum sehr deutliche Worte gefunden hat, ist sie nicht nur eine äußerst neugierige, sondern auch eine sehr sensible Person. Ihr gelingen immer wieder Formulierungen, die das in bezaubernder Weise deutlich machen und eine solche Formulierung möchte ich zitieren – sie zeigt, dass bei aller Bemühung um Restitution der Verlust durch Kunstraub und andere Verluste niemals vollständig geheilt werden können: »Verlust ist die Erfahrung, die einem beibringt, was das Leben bedeutet, wenn man es vom Ende betrachtet und nicht vom Anfang. Und deshalb ist der Verlust auch im Kern des Lebens eingebettet.« Aber sie plädiert, neben der Trauer des Verlustes auch die gemeinsame Erfahrung des universellen Menschenerbes stark werden zu lassen und daraus Kraft zu schöpfen. Feierliche Staatsakte der Rückgabe können solche gemeinsamen Erfahrungen bestärken und befestigen. 

Bénédicte Savoy ist schon vielfältig ausgezeichnet worden: So wurde ihr der Prix Pierre Grappin 2001 zugesprochen, der Walter de Gruyter-Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2009, sie wurde 2013 zur Ritterin des nationalen Verdienstordens der französischen Republik ernannt, erhielt 2016 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und in diesem Jahr wurde ihr nicht nur der große deutsch-französische Medienpreis zugesprochen, sondern auch die Würde einer Ritterin der Ehrenlegion. Und heute nun der Deutsche Kulturpolitikpreis: meinen allerherzlichsten Glückwunsch! 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.