Der Thienemann Verlag, einer der renommiertesten Kinderbuch-Verlage in Deutschland, der Klassiker u. a. von Michael Ende und Otfried Preußler herausgibt, hatte bereits 2013 Änderungen in »Die kleine Hexe«, 2024 auch in den beiden »Jim Knopf«-Bänden vorgenommen. In einer Pressemeldung erklärte der Verlag: »Damit Kinder, die die Bücher jetzt lesen, diese sprachlichen Elemente nicht in ihren Alltagswortschatz übernehmen, haben Nachlass und Verlag nach reiflicher Überlegung entschieden, das N-Wort zu streichen und die stereotypen Beschreibungen zu reduzieren.« Barbara Haack sprach mit Bärbel Dorweiler über die Frage, wie weit Veränderungen gehen dürfen und ob solche Eingriffe auch Eingriffe in die Kunstfreiheit sind.
Barbara Haack: Veränderungen, die Sie in der »Kleinen Hexe« im Jahr 2013 vorgenommen haben, lösten damals Diskussionen über etwas aus, das heute nicht mehr in Frage gestellt wird.
Bärbel Dorweiler: Das stimmt. Die Diskussion hat sich tatsächlich deutlich verändert. In den Feuilletons wurde 2013 zum Teil mit großem Entsetzen reagiert: An diesem Klassiker darf kein Jota verändert werden. Da hat sich inzwischen tatsächlich etwas geändert. Zugleich wird diese Diskussion immer noch sehr holzschnittartig geführt. Ich finde, dass man jedes Werk für sich betrachten und auf die Details schauen muss. Wir machen das immer in ganz enger Absprache mit Autoren oder ihren Erben.
Wie liefen konkret diese Diskussionen? Gab es eine große Bereitschaft auf der Seite der Rechteinhaber?
Das sind lange und intensive Gespräche. Wir sorgen dafür, dass solche Gespräche in einem geschützten und geschlossenen Raum stattfinden. Wenn wir uns mit dem Nachlass verständigt haben, können wir die Diskussion anschließend öffentlich führen. Es ist wichtig transparent zu machen, was wir machen und aus welchen Gründen. Sonst wird das Vorurteil geschürt, es werde zensiert. Das ist ein Schlagwort, das hier total deplatziert ist.
Sie haben diese Transparenz durch eine Gegenüberstellung von Original und Veränderungen bei »Jim Knopf« hergestellt. Einige dieser – insgesamt sehr überschaubaren – Veränderungen sind sofort nachzuvollziehen, bei anderen stellt sich die Frage: Wie weit darf man gehen? Mir stellt sich auch die Frage der Bevormundung von Kindern und Jugendlichen: Wo entferne oder verändere ich etwas, um sie zu schützen? Und wo kann ich davon ausgehen, dass Kinder selbst in der Lages sind, etwas zu verstehen und einzuordnen, das ja Teil ihrer Welt ist?
Das ist ein wichtiges Argument. Es kann nicht darum gehen, in Kinderbüchern eine heile Welt zu zeichnen. Ich sehe die Gefahr, dass wir Kinder unterschätzen und dass wir ihnen in der Angst, ihnen zu viel zuzumuten, zu wenig zumuten. Ich bin immer dafür, sie als mündige Kinder zu behandeln. Die Diskussion bei Jim Knopf entzündete sich am N-Wort. Michael Ende hat das Wort nicht als Erzähler genutzt, sondern er hat es einer Figur, Herrn Ärmel, in den Mund gelegt. Er hat damit ganz bewusst gezeigt, dass unachtsame Sprache zu Diskriminierung führen kann. Aber in der Diskussion über das Buch wurde dieses Wort und die Kritik daran so dominant, dass es den Blick auf das, was dieses Buch erzählt und leistet, komplett zu verstellen drohte.
Ist die Original-Ausgabe ohne Änderungen noch erhältlich?
Wir haben 2015 kolorierte Ausgaben des Buches herausgegeben und in diesen Veränderungen vorgenommen. Die ursprünglichen Schwarzweiß-Ausgaben sind weiterhin lieferbar, und zwar unverändert. Denn es gibt natürlich die berechtigte Frage: Können wir den originalen Text von Michael Ende noch lesen, oder wird er uns vorenthalten? Wenn ich also den Jim Knopf aus meiner Kindheit lesen möchte, dann kann ich das auch heute noch tun.
Wie läuft der Prozess in Ihrem Haus, wenn solche Veränderungen anstehen? Wird jede kritische Stelle diskutiert?
Wir haben uns im Haus mit einem kleinen Team zunächst beide Bände sehr genau angeschaut und die Stellen markiert, die schon zu Kommentaren geführt haben oder führen könnten. In einem zweiten Schritt haben wir dann diese Stellen mit einem Sensitivity Reader besprochen, denn wir sind im Verlag zu wenig divers, um komplett beurteilen zu können, wie etwas bei Menschen mit Migrationshintergrund wirken kann. Im dritten Schritt haben wir dann mit den Erben Stelle für Stelle diskutiert, um jeweils die beste Lösung zu finden und die Änderungen so präzise wie möglich umzusetzen.
Haben Sie viele Reaktionen auf die Veränderungen bekommen, von Lehrkräften, Eltern, Bibliotheken, Buchhändlern?
Wir haben sehr viele Reaktionen bekommen, auch in der Presse. Es war, als hätte man in ein Wespennest gestochen. Das war eine Meldung, die offenbar alle transportieren wollten.
Vielleicht auch, weil es um etwas geht, was zu den ureigensten Vorstellungen der Demokratie gehört, nämlich die Freiheit der Kunst?
Ja, und weil es ein Thema ist, das uns in unserer Gesellschaft absolut beschäftigt. Es waren sehr breite Reaktionen, auch vom Publikum, von Buchhändlern. Im Allgemeinen war der Tenor: Gut, dass ihr das macht. Natürlich gibt es auch kritische Stimmen.
Können Sie sich vorstellen, dass sich in den nächsten Jahren das gesellschaftliche Bewusstsein noch einmal so verändert, dass es weiterer Veränderungen bedarf?
Wir hören diese Befürchtung häufig: Wenn man einmal den Schritt gewagt hat, dann ändert man in fünf oder zehn Jahren erneut. Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Bei den »Jim Knopf«-Bänden fällt im Grunde unsere heutige gesellschaftliche Diskussion um Diskriminierung und gesellschaftliche Vielfalt mit dem Thema der Bücher in eins. Michael Ende zeigt, dass Diskriminierung mit unachtsamer Sprache beginnen kann, und nutzt als Kind seiner Zeit zugleich stereotype Beschreibungen, die heute ganz anders gelesen werden. Die Utopie des friedlichen Zusammenlebens aller Völker, mit dem Jim Knopf endet, trägt die heutige Vielfalt unserer Gesellschaft quasi in sich.
Es geht nicht darum, in allen Kinderbüchern eine stromlinienförmige Zeichnung zu erstellen. Im Gegenteil: Vielfalt ist unglaublich wichtig. Und künstlerische Freiheit ebenfalls.
Vielen Dank.